Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
kein Geld dafür nehmen. Aber zweitens, und das ist viel wichtiger, glaube ich, dass dieser Fall als das ad acta gelegt wird, was er ist. Ein entsetzliches Unglück. Und jetzt muss ich wirklich machen, dass ich weiterkomme.«
»Gut«, sagte die andere Frau kurz. »Ich habe Ihre und meine Zeit vergeudet.«
Sie erhob sich, jetzt mit deutlich steiferen Bewegungen als zuvor. Ihr Körper war ein wenig gebeugt, und als sie durch das Zimmer zum Flur ging, musste sie einen Schritt zur Seite machen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. An der Wohnungstür blieb sie für einige Sekunden mit dem Rücken zu Inger Johanne stehen.
»Da ist noch eine Kleinigkeit«, sagte sie leise und drehte sich halb um.
»Ja?«
»Kann ich mich auf Ihre absolute Verschwiegenheit verlassen?«
Inger Johanne zögerte einen Augenblick.
»Es kommt natürlich darauf an, was Sie mir sagen wollen«, antwortete sie. »Aber wenn Sie mich fragen, ob ich ein Geheimnis für mich behalten kann, dann ist meine Antwort: Ja.«
Die Augen der alten Frau wirkten glasig, und ihre Nasenflügel vibrierten ängstlich. Das war nicht mehr die selbstsichere Gastgeberin, die versuchte, Inger Johanne als Privatdetektivin anzuheuern. Selbst die fülligen grauweißen Haare schienen in sich zusammengefallen zu sein. Sie hob den Kopf und starrte auf Inger Johannes Knie.
»Jon ist nicht Sanders wirklicher Vater.«
»Was sagen Sie da?«
»Ellen war ... Sie wissen, nach all den Fehlgeburten. Sie sind in diese Klinik gegangen. In Finnland. Da wurde so eine ... Sie wissen schon ...«
Sie legte sich die schmale Hand über die Augen, als ob sie sich schämte.
»... Spende.«
»Samenspende?«
Inger Johanne versuchte, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen, ohne allzu verwirrt auszusehen.
»Ja. Es klappte ja einfach nicht. Mit Ellen und Jon. Deshalb ... Ellen weiß nicht, dass ich es weiß. Jon hat es mir erzählt. Eines Abends im vorigen Sommer. Sander hatte eine Katze gefangen. Sander ist kein grausames Kind. Er denkt nur nicht nach, bis es zu spät ist. Er hat die Katze an einen Fallschirm von so einem Kriegsspielzeug gehängt und ist im Glads vei aufs Dach geklettert. Ohne den Fallschirm hätte die Katze wohl überlebt.«
»Er hat ... Sander hat die Katze vom Dach geworfen?«
»Ja.«
Jetzt ließ sie endlich die Hand sinken, hob aber nicht den Blick.
»Das Tier hat sich das Rückgrat gebrochen, das arme. Es hatte sich in den Fallschirmschnüren verheddert und konnte nicht auf allen vieren landen, wie Katzen das ja eigentlich können. Ich war später an dem Abend zum Babysitten dort. Nie in meinem Leben hatte ich Jon so wütend erlebt. Ellen musste allein zu dem Fest gehen, wo sie eingeladen waren, Jon tobte, er hatte getrunken ...«
Sie schwankte, aber als Inger Johanne intuitiv die Hand ausstreckte, um sie zu stützen, schlug die alte Frau ihre Hand weg.
»Er hat es mir erzählt. Er hat erzählt, dass Sander nicht sein Sohn war. Als ob Sander nicht immer sein Junge gewesen wäre, es spielte ja wohl keine Rolle, ob ...«
Mit einer Kraftanstrengung richtete sie sich gerade auf und schob ihr Kinn vor.
»Für meinen Mann hätte das eine Rolle gespielt. Für mich nicht. Sander gehörte zu uns, ganz bestimmt. Das habe ich auch zu Jon gesagt. Er war nur so betrunken. Ich habe ihn nie so gesehen, vorher nicht und nachher nicht. Er ist vorsichtig mit Alkohol, mein Jon.«
Damit hatte sie eigentlich recht, dachte Inger Johanne überrascht. In ihrer Schulzeit hatte Jon gar nicht getrunken, und als Erwachsener nippte er nur an allem, statt es hinunterzukippen. Wenn jemand leise protestierte, weil Jon seine Hand über das Glas gelegt hatte, statt sich nachschenken zu lassen, sagte er in der Regel, er müsse noch arbeiten.
»Am nächsten Tag hat er alles entsetzlich bereut«, sagte Helga Mohr. »Ich musste schwören, niemandem etwas zu verraten. Niemals.«
»Aber jetzt verraten Sie es mir. Warum?«
»Weil ...«
Sanders Großmutter schaute auf ein Foto an der Wand. Ein Schulbild. »1 a« stand in Kreideschrift an der Tafel im Hintergrund, Sander in blauem Pullover mit Bleistift in der Hand an seinem Tisch.
»Ich habe über solche ... Misshandlungsfälle gelesen. Vor allem über diesen letzten, wissen Sie.«
Inger Johanne nickte ganz leicht.
»Stiefväter«, flüsterte Helga Mohr. »Ich habe den Eindruck, man hat mehr Grund, einen Mann zu verdächtigen, wenn er nicht der leibliche Vater des Kindes ist.«
Ihre Augen liefen über.
»Jon war Sanders
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