Schattenkinder
war eben einfach jünger. Er würde älter werden. Wäre er dann nicht genauso wie sie?
Mit ungewöhnlicher Sturheit beharrte Luke: »Ich will wissen, warum ich anders bin. Ich will wissen, warum ich mich verstecken muss.«
Also sagte die Mutter es ihm.
Später wünschte er, dass er mehr Fragen gestellt hätte. Aber damals konnte er ihr einfach nur zuhören. Er hatte das Gefühl, in der Flut ihrer Worte zu ertrinken.
»Es ist einfach passiert«, sagte sie. »Du bist einfach passiert. Und wir wollten dich. Ich wollte mit deinem Vater nicht mal darüber reden, dich ... loszuwerden.«
Luke stellte sich vor, wie man ihn als kleines Baby irgendwo am Straßenrand in einem Pappkarton abstellte.
Vater hatte erzählt, dass die Leute das früher mit kleinen Kätzchen gemacht hatten, zu der Zeit, als Haustiere noch erlaubt waren. Aber vielleicht war es gar nicht das, was Mutter meinte.
»Damals gab es das Bevölkerungsgesetz noch nicht lange und ich hatte mir schon immer viele Kinder ge-wünscht. Vorher, meine ich. Mit dir schwanger zu werden war wie - ein Wunder. Ich dachte, die Regierung würde ihre Dummheit schon noch einsehen, vielleicht sogar noch vor deiner Geburt, und dann hätte ich ein neues Baby, das ich allen zeigen konnte.«
»Aber das hast du nicht«, gelang es Luke zu sagen. »Du hast mich versteckt.«
Seine Stimme klang merkwürdig rau, als gehöre sie jemand anderem.
Mutter nickte. »Als ich zuzunehmen begann, ging ich einfach nicht mehr unter die Leute. Das war nicht schwer - wo gehe ich schon hin? Und ich ließ Matthew und Mark nicht mehr von der Farm, aus Angst, dass sie etwas verraten könnten. Nicht mal in Briefen an meine Mutter und an meine Schwester habe ich von dir erzählt. Richtig Angst hatte ich damals nicht. Ich war nur abergläubisch. Ich wollte nicht angeben. Ich dachte, ich würde zur Geburt ins Krankenhaus gehen. Ich wollte dich nicht für immer geheim halten. Aber dann...«
»Was dann?«, fragte Luke.
Die Mutter wich seinem Blick aus.
»Dann haben sie all diese Dinge im Fernsehen gezeigt, von der Bevölkerungspolizei und dass sie Mittel und Wege haben, wie sie allem auf die Schliche kommen. Und dass die Regierung alles tun wird, um sicherzustellen, dass das Gesetz eingehalten wird.«
– 6 –
Margaret Peterson Haddix - Schattenkinder
Luke schaute zu dem klotzigen Fernseher im Wohnzimmer hinüber. Er durfte nicht fernsehen. War das der Grund?
»Und dein Vater hat in der Stadt Gerüchte gehört, von anderen Babys...«
Luke erschauerte. Mutter starrte in die Ferne, dorthin, wo die Reihen der neuen Maispflanzen den Horizont berührten.
»Ich habe mir immer noch einen John gewünscht. Wie die vier Evangelisten aus der Bibel: Matthew, Mark, Luke und John, für Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Aber ich danke Gott, dass ich wenigstens dich habe. Und das Verstecken hat doch geklappt, nicht wahr?«
Sie lächelte ihn unsicher an. Luke hatte das Gefühl, ihr helfen zu müssen.
»Ja«, sagte er.
Und aus irgendeinem Grund machte ihm das Verstecken hinterher weniger aus. Wer wollte schon fremden Leuten begegnen? Wer wollte schon zur Schule gehen, wo - wenn man Matthew und Mark glauben durfte -
die Lehrer herumbrüllten und die anderen Jungen einen hereinlegten, wenn man nicht aufpasste. Er war etwas Besonderes. Er war ein Geheimnis. Er gehörte nach Hause - dorthin, wo seine Mutter ihm immer das erste Stück Apfelkuchen gab, weil er zu Hause war und die anderen Jungen nicht. Nach Hause, wo er in der Scheune die kleinen Ferkelchen im Arm halten, am Waldrand Bäume besteigen und Schneebälle gegen die Pfosten der Wäscheleine werfen konnte. Nach Hause, wo der Garten hinter dem Haus lockte, in dem er sicher und geschützt war durch das Haus, die Scheune und den Wald.
Bis sie den Wald abholzten.
– 7 –
Margaret Peterson Haddix - Schattenkinder
Kapitel 3
Luke lag bäuchlings auf dem Boden und schob die Spielzeugeisenbahn in der Spur gelangweilt vor und zurück. Die Eisenbahn hatte früher seinem Vater gehört, als der noch ein kleiner Junge war, und davor dessen Vater. Luke konnte sich noch daran erinnern, dass es einmal sein größter Wunsch gewesen war, Mark möge endlich zu alt für die Eisenbahn werden, damit er sie ganz für sich allein haben konnte. Aber heute war die Eisenbahn nicht das, wonach ihm der Sinn stand. Draußen brach ein wunderschöner Tag an, mit flauschigen Wolken an einem ach so blauen Himmel und einem lauen Wind, der das Gras im Garten hinter dem Haus
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