Schattenlaeufer und Perlenmaedchen - Abenteuer Alltag in Japan
Rushhour schon verloren.
Manchmal hat Miura sein Leben als Salariman so satt, dass er allein beim Anblick der Bahn Herzklopfen bekommt. „Ich werde dann richtig aggressiv, wenn ich so eingeklemmt zwischen all den Menschen stehen muss. Manchmal würde ich am liebsten wieder rausspringen und einfach nur fortlaufen“, erzählt Miura ruhig bei einer Schale Tee. „Ich lenke mich dann ab und träume von einem Leben ganz weit weg. Irgendwo im Süden, da fange ich dann ganz von vorne an. Neulich habe ich in der Buchhandlung einen Ratgeber dazu gesehen. Den hätte ich beinahe gekauft. Aber das geht natürlich nicht“, fügt er seufzend hinzu. „Ich muss an die Kinder denken. Meine Frau und ich, wir könnten das schaffen. Aber die Kinder brauchen eine gute Schule, und die Nachhilfestunden müssen auch bezahlt werden. Jetzt ist es zu spät dafür, jetzt muss ich das einfach aushalten.“
Wenn er gemeinsam mit der Menschenmasse aus dem Bahnhof zurück ans Tageslicht quillt, hat er sich wieder im Griff und die mentale Morgenkrise ist überwunden.
Seit 15 Jahren arbeitet Miura Kotsuke in der Entwicklungsabteilung einer großen Softwarefirma. Der Wachmann am Tor ruft ihm einen zackigen Morgengruß zu, gemeinsam mit den Kollegen betritt er den Fahrstuhl. Im fünften Stock liegt das Großraumbüro seiner Einheit. Jeweils zwei Tische stehen sich gegenüber, am Ende der langen Reihe steht ein Schreibtisch quer. Hier sitzt der Chef. Er hat den besten Platz gleich am Fenster. Das rangniedrigste Mitglied der Gruppe ist der junge Kato, er sitzt hinten im Dunkeln. Miura ist dem Chef schon recht nah, für das nächste Jahr erhofft er sich eine Beförderung.
Als Erstes schlüpft Miura in seine Uniformjacke und wechselt die Schuhe. „Wir haben hier alle unsere Büroschlappen. Den ganzen Tag in Straßenschuhen zu verbringen, ist doch furchtbar unbequem“, erklärt Miura. Und tatsächlich, jeder Kollege trägt Pantoffeln, manche sind ausgesprochen plüschig und feminin. Nur die OLs, die Office Ladies, wie die rangniedrigen Sekretärinnen genannt werden, tragen zu ihren adretten Uniformen hochhackige Schuhe.
Immer noch finden sich in japanischen Unternehmen selten Frauen in verantwortungsvollen Positionen, das Bild der weiblichen Angestellten ist trotz aller Gleichberechtigungsbemühen weiterhin von den jungen Damen ohne Karrierechancen geprägt. Ihre Aufgabe besteht hauptsächlich aus leichten Bürotätigkeiten und dem Servieren von Tee, dabei haben sie oftmals ein College besucht und bringen gute Qualifikationen mit.
Auch Miura bekommt von einer jungen Dame seine erste Tasse Tee serviert. Ein kleines Schwätzchen und der Gong ertönt: „Guten Morgen allerseits! Heute ist ein schöner Tag! Bevor wir uns nun an unsere Schreibtische begeben und besonders gute Leistungen erbringen, lassen Sie uns unsere Lockerungsübungen beginnen!“ Klaviermusik im abgehackten Rhythmus ertönt. Die freundliche Stimme vom Band gibt Anweisungen für Kniebeugen und Schulterrollen. Die meisten treten brav in den Gang und machen die Übungen mit. Da huscht noch ein Kollege zur Tür hinein und legt dem Chef einen Zettel auf den Tisch. Sein Zug hatte Verspätung. Um Ärger am Arbeitsplatz zu vermeiden, stellt die Bahngesellschaft Entschuldigungsschreiben für die Betroffenen aus.
Nach dem ersten Blick in den Computer steht heute eine Besprechung an. Alle Teilnehmer begeben sich in das Konferenzzimmer. Zuvor schieben Miura und seine Kollegen auf der Magnettafel bei der Tür die Knöpfchen neben ihren Namen von „Anwesend“ auf „Besprechung“. Sollte ein Telefonat reinkommen, können die Kollegen nach einem Blick auf die Tafel immer die korrekte Auskunft erteilen.
Die Besprechung zieht sich in die Länge. Zu jedem Thema muss der Konsens der Gruppe eingeholt werden, das dauert seine Zeit. Aufgaben werden verteilt, Berichte eingefordert. Miura arbeitet zügig, die morgendliche Müdigkeit ist verflogen. Um Punkt 12 Uhr ertönt erneut der Gong: Zeit für die Mittagspause. Früher gingen die Kollegen gemeinsam in eines der vielen kleinen Restaurants des Viertels. Seit einiger Zeit läuft Miura lieber zum Park an die Ecke, setzt sich auf eine Bank und packt sein Lunchpaket, das sogenannte O-Bento, aus. „Wenn ich mir Essen von daheim mitbringe, ist das billiger als ein Restaurantbesuch. Die Bonuszahlungen fallen nicht mehr so üppig aus und auch Gehaltserhöhungen sind nicht mehr selbstverständlich. So leiste ich meinen Beitrag zum Sparen in der Familie.
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