Schattenmacht
Internat war, gehörte sie zu den Tagesschülerinnen. Ihre Eltern lebten im Ausland, aber sie hatten nur fünf Minuten von der Schule ein Haus, und eine Haushälterin kümmerte sich um sie.
Gestern hatte die Schulleiterin sie kurz vor der Mittagspause in ihr Büro bestellt. Als Scarlett die Treppe zu dem Vorzimmer hochgestiegen war, das alle Mädchen nur den Friedhof nannten, weil dort so viele Porträts toter Lehrer hingen, hatte sie sich gefragt, welche Art von Ärger es diesmal geben würde. Ob es um den Streit mit Miss Wilson, der Erdkundelehrerin, ging? Oder die Physik-Hausaufgaben, die sie »im Bus vergessen« hatte? Oder die Rauferei im Computerraum – auch wenn sie diese nicht angefangen hatte?
Doch als sie schließlich in den gemütlichen Raum mit dem Blick auf die Einfahrt gebeten wurde, kam etwas, mit dem sie nie gerechnet hätte.
»Scarlett, ich fürchte, du wirst uns für ein paar Wochen verlassen müssen.« Die Direktorin war wenig begeistert. »Ich habe gerade einen Anruf von deinem Vater bekommen. Wenn ich ehrlich sein soll, hat er sehr geheimnisvoll getan. Aber es scheint sich um irgendeine Krise zu handeln. Es geht ihm gut, aber er möchte dich bei sich haben. Er hat deinen Flug bereits gebucht.«
»Wann fliege ich?«
»Morgen. Ich muss sagen, dass das sehr ungelegen kommt. Du stehst kurz vor deiner Zwischenprüfung, ganz zu schweigen von deiner Rolle in der Weihnachtsaufführung. Aber dein Vater hat darauf bestanden. Ich soll dir ausrichten, dass er dich heute Abend anrufen wird.«
Scarlett hatte abends mit ihrem Vater gesprochen, aber er hatte nicht viel mehr gesagt, als sie schon von der Schulleiterin wusste. Er wollte sie eine oder zwei Wochen bei sich haben. Den Grund dafür sollte sie erfahren, wenn sie dort war. Die Haushälterin – eine dunkle und mürrische Schottin – packte bereits ihre Sachen. Anscheinend gab es nichts mehr zu bereden. Scarlett hatte den Rest des Abends damit verbracht, ihren Freundinnen Kurzmitteilungen und Mails zu schicken, und war dann missgelaunt ins Bett gegangen.
Jetzt war ihre Laune nicht viel besser. Sie sah sich im Warteraum um. Es waren die üblichen Geschäftsreisenden da, von denen sich einige am Getränkeautomaten bedienten, während andere sich die Nachrichten ansahen. In einer Ecke des Raums hing ein Plasmafernseher, und sie warf einen Blick darauf.
»Heute hat der neue Präsident der Vereinigten Staaten im Weißen Haus eine Erklärung abgegeben…«
Es ging schon wieder um die Wahl. Seit einer Woche gab es im Fernsehen kein anderes Thema. Scarlett sah zu, wie Charles Baker vor die Presse trat.
»Die Niederlage von Senator John Trelawny war ein großer Schock für seine Anhänger«, fuhr der Nachrichtensprecher fort. »Das amtliche Endergebnis mit zweiundfünfzig Prozent der Stimmen für Baker hat jeden überrascht, und der Vorwurf des Wahlbetrugs aus dem gegnerischen Lager wird immer lauter.«
Jetzt sprach Baker. Er war elegant gekleidet und wirkte entspannt. Er sah eigentlich gut aus, aber mit seinen Augen stimmte etwas nicht. Sie wirkten irgendwie leer und ausdruckslos.
»Ich bezeichne Mr Trelawny nicht gern als schlechten Verlierer«, sagte er. »Aber diese Anschuldigungen sind absolut lächerlich, und ich sehe keinen Grund für eine offizielle Untersuchung.«
Das Bild wechselte und zeigte nun Aufnahmen von Demonstranten vor dem Weißen Haus. Sie trugen Transparente und marschierten grimmig schweigend auf und ab.
»Der strittige Punkt sind die Computersysteme, die zur Auszählung der Stimmen verwendet wurden«, berichtete der Sprecher. »Rund siebzig Prozent der Stimmen werden maschinell ausgezählt, und Kritiker weisen darauf hin, dass nicht weniger als drei der wichtigsten Firmen, die die Stimmzettel ausgewertet haben, enge Beziehungen zur Nightrise Corporation unterhalten – die die Kampagne von Charles Baker unterstützt hat.«
Scarlett hatte schon nicht mehr hingesehen. Politik interessierte sie nicht. Aber ein Wort hatte ihr Interesse geweckt.
Nightrise.
Wie komisch.
Das war die Firma in Hongkong, für die ihr Vater arbeitete, und genau dorthin war sie unterwegs. Konnten die wirklich in einen Betrug verwickelt sein? Bestimmt nicht. Ihr Vater war Anwalt, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass er jemals etwas Illegales tun würde.
Eine junge Frau in der Uniform von British Airways hatte den Warteraum betreten. Sie ging auf Scarlett zu. »Bist du bereit?«, fragte sie. »Wir müssen zur Abflugkontrolle, und dann kannst du
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