Schattenmacht
Eintrittskarte, die sie verkauften.
Die Besucher begannen sich bereits zu fragen, ob diese Show sie wohl auch nur ansatzweise verzaubern würde. Das schmutzige Mauerwerk, die kaputte Leuchtreklame und das laienhaft gemachte Plakat sahen nicht gerade vielversprechend aus. Aber andererseits gab es in Reno kaum etwas anderes, das nur dreißig Dollar kostete, und jetzt war es vermutlich zu spät, um sein Geld zurückzuverlangen. Dann ertönte ein ratterndes Geräusch, und die Tür wurde geöffnet. Die Besucher strömten ins Theater. Im Foyer gab es einen Stand mit Getränken und Süßigkeiten, aber da sie extrem überteuert waren, kaufte niemand etwas. Fast unwillig zeigten die Leute ihre Eintrittskarten vor und gingen durch den schmalen Gang in den Zuschauerraum.
Das Theater hatte zweihundert Sitzplätze, die hufeisenförmig um die Bühne angeordnet waren. Vor der Bühne hing ein roter Vorhang, ausgefranst und verblichen. Pünktlich um halb acht dröhnte Popmusik aus den Lautsprechern. Der Vorhang hob sich und gab den Blick frei auf einen bärtigen Mann mit einer Sonnenbrille und einem Turban.
»Guten Abend, meine Damen und Herren«, begrüßte er die Besucher. »Mein Name ist Swami Louvishni, und ich bin den ganzen Weg von Kalkutta hergekommen, um Sie zu verzaubern.«
Nichts davon stimmte. Es war nur die erste von vielen Lügen.
Der indische Fakir war natürlich nicht echt. Sein wirklicher Name war Frank Kirby, und der östlichste Ort, den er je gesehen hatte, war New York. Seinen Künstlernamen hatte er aus einem Comic und seine Tricks aus einem Büchereibuch, das er gestohlen hatte, als er neunzehn war. Bobby Bruce, der angebliche Hypnotiseur, war ein arbeitsloser Schauspieler und hatte nie einen Star aus der Nähe gesehen. Mr Marvano, der Zauberer, wurde wieder von Frank Kirby gespielt – ohne den Bart und die Sonnenbrille und mit verstellter Stimme. Zorro war im realen Leben Alkoholiker.
Die Zuschauer waren wenig begeistert. Es war Hochsommer, die Hitze flimmerte über die Wüste, und die Klimaanlage im Theater lief nur mit halber Kraft. Die Leute schliefen beinahe in ihren Sitzen ein. Sie klatschten höflich, als sich der Fakir auf sein Nagelbrett legte und der Entfesselungskünstler aus einer verschlossenen Kiste sprang. Der Zauberer langweilte sie nur – sogar als er es fertigbrachte, einen großen, hechelnden Hund aus einem leeren Käfig hervorzuzaubern. Wahrscheinlich wussten die Leute, dass es in Las Vegas, nur ein paar Hundert Meilen entfernt, Magier gab, die dasselbe mit Elefanten und weißen Tigern machten.
Die Show dauerte fünfundsiebzig Minuten, und als die letzten Künstler die Bühne betraten, hatten die Leute längst genug. Einige waren sogar schon gegangen. Doch als die Musik wechselte und die Beleuchtung plötzlich schummrig wurde, geschah etwas im Reno Theater. Etwas, das jeden Abend geschah. Es war, als spürten die Leute, dass sie nun etwas von dem zu sehen bekommen würden, was ihnen das Plakat versprochen hatte.
Jetzt betraten die Zwillinge die Bühne. Sie trugen dunkle Hosen und schwarze Hemden, die am Hals offen waren. Der größere der beiden Jungen starrte feindselig ins Publikum. Er sah aus wie ein Straßenkämpfer, und er hatte eine große Prellung am linken Wangenknochen. Sein Bruder wirkte freundlicher, und man hatte den Eindruck, dass ihm sein Auftritt sogar Spaß machte. Er war es, der sprach.
»Guten Abend«, begrüßte er die Zuschauer. »Mein Name ist Jamie Tyler.« Er deutete auf den anderen Jungen, der sich nicht bewegt hatte. »Und das ist mein Bruder Scott. So lange ich mich erinnern kann, wissen wir beide, was im Kopf des anderen vorgeht. Das macht es nicht gerade einfach, wenn einer von uns versucht, ein Mädchen kennenzulernen…«
Das waren nicht seine Worte. Man hatte ihn gelehrt, sie zu sagen, und er konnte nichts Witziges daran finden. Trotzdem zwang er sich zu einem Lächeln. Die Zuschauer zeigten gelindes Interesse. Sie hatten das Plakat gesehen. Telepathische Zwillinge. Aber niemand hatte ihnen gesagt, dass es Kinder waren.
»Wir haben das erst kürzlich entdeckt«, fuhr Jamie fort. »Wir wissen nicht nur, was der andere denkt. Wir sind echte Telepathen und haben eine Verbindung zueinander, die die Wissenschaft weder verstehen noch erklären kann. Und das werden wir Ihnen heute Abend beweisen. Lassen Sie uns beginnen!«
Während er redete, hatte ein Helfer einen Tisch voller Zeitungen hereingebracht. Es waren zwanzig verschiedene Zeitungen aus ganz
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