Schattenmacht
DIE WELT DER ILLUSIONEN
Die beiden Männer in der schwarzen Limousine hatten das Theater schon einmal umrundet. Jetzt hielten sie auf der anderen Straßenseite gegenüber dem Haupteingang. Draußen waren es über dreißig Grad, aber die Klimaanlage im Auto lief auf Hochtouren, sodass es drinnen so kalt war wie in einem Kühlschrank. Die Männer saßen schweigend nebeneinander. Sie arbeiteten nun schon viele Jahre zusammen und verabscheuten sich. Sie hatten sich nichts zu sagen.
Das Theater lag am nördlichen Stadtrand von Reno im Bundesstaat Nevada. Es war ein kastenförmiges Gebäude aus rotem Stein mit nur einer Tür und ohne Fenster. Wäre die Neonschrift RENO THEATER über der Tür nicht gewesen, hätte es auch eine Bank oder vielleicht eine Kapelle sein können. Einige der Neonröhren funktionierten nicht, und so war nur NO THEATER zu lesen.
Trotz seines Namens war im Reno Theater noch nie ein Theaterstück aufgeführt worden. Stattdessen war es immer wieder kurzfristig Heimat für zweitklassige Sänger, Tänzer, Zauberer und Komödianten gewesen, die irgendwann einmal bekannt gewesen, dann aber in der Versenkung verschwunden waren. Leute wie sie traten hier Abend für Abend auf und versuchten, andere zu unterhalten.
Die nächste Vorstellung würde in einer Stunde beginnen, und die beiden Männer hatten ihre Eintrittskarten schon gekauft. Es gab allerdings etwas, das sie noch sehen wollten, bevor sie ihre Plätze einnahmen. Und sie brauchten nur wenige Minuten zu warten. Der Mann auf dem Fahrersitz erstarrte plötzlich.
»Da sind sie«, sagte er.
Zwei Jungen waren gerade aus einem Bus ausgestiegen. Beide trugen Jeans und T-Shirts, und einer hatte einen Rucksack dabei. Es war unverkennbar, dass sie Zwillinge waren, etwa vierzehn Jahre alt. Sie waren beide sehr schlank, fast mager. Sie hatten schwarzes, glattes Haar, das ihnen in den Nacken hing, und dunkelbraune Augen. Der eine war ein paar Zentimeter größer und wirkte kräftiger als der andere. Er sagte etwas, und sein Bruder lachte. Dann bogen die beiden um die Ecke und waren verschwunden.
»Das waren sie?«, fragte der Mann auf dem Beifahrersitz. »Das waren sie«, bestätigte der Fahrer.
Der erste Mann zuckte die Schultern. »Für mich sahen die nicht aus wie etwas Besonderes.«
»Das sagst du doch immer, Hovey. Aber man kann nie wissen.
Vielleicht sind diese Kinder diejenigen…«
»Ich brauche einen Drink.«
Die Männer hatten noch eine Stunde Zeit, und Bars gab es in Reno in Massen. Vielleicht würden sie auch ein paar Münzen in einen Spielautomaten stecken – die Casinos standen hier dicht aneinandergereiht. Es war ein langer Tag gewesen. Der Fahrer warf einen letzten Blick auf das Theater und nickte. Er hatte ein gutes Gefühl. Diesmal würden sie finden, wonach sie suchten. Er legte den Gang ein und fuhr los.
Die Show, die zurzeit im Reno Theater gastierte – und zwar schon seit sechs Monaten –, hieß »Die Welt der Illusionen«. Neben der Eingangstür hing ein Glaskasten mit einem schwarz-weißen Plakat, das die Stirn und die Augen eines Magiers oder vielleicht eines Hypnotiseurs zeigte. Seine Hände schwebten körperlos vor ihm und zeigten auf den Besucher. Auf dem Plakat stand:
DON WHITE PRÄSENTIERT
DIE WELT DER ILLUSIONEN
Es gibt Dinge im Leben, die unerklärlich sind. Kräfte, die jenseits unseres Bewusstseins existieren. Wagen Sie die Reise in diese Welt jenseits der Realität? Sie werden Ihren Augen nicht trauen! Lassen Sie sich verzaubern! Diese Show werden Sie nie vergessen!
UNSERE STARS:
Swami Louvishni – weltberühmter indischer Fakir
Bobby Bruce – Hypnotiseur der Stars
Mr Marvano – Meister der Zauberei
Zorro – Entfesselungskünstler
Scott & Jamie Tyler – telepathische Zwillinge
Vorstellungen: 19:30 & 21:30 Uhr.
Eintritt: 35 bis 55 $.
Senioren zahlen den halben Preis.
An diesem Abend hatte sich um zwanzig nach sieben eine kleine Menschenmenge auf dem Bürgersteig versammelt und wartete darauf, dass die Tür geöffnet wurde. Es waren etwa fünfzig Leute. Die meisten waren durch Flugblätter angelockt worden, die sie vom Empfangspersonal ihrer Hotels bekommen hatten. Auf den Flugblättern hieß es »Fünf Dollar Preisnachlass – nur diese Woche«. Tatsächlich gab es diesen Rabatt jede Woche. Seit dem Beginn der Show wurden dieselben Flugblätter verteilt – und die Hotelangestellten verteilten sie nur, weil sie dafür bezahlt wurden. Sie bekamen fünf Dollar für jede
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