Schattenmächte: Kriminalroman (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
Flur und sowie er den Türrahmen erreicht hatte und hineinblickte, überspülte ihn die Gewissheit. Fürchterliche, schmerzhafte, atemlose Gewissheit. Nein, er war nicht verlegt worden, antwortete die Schwester, die das Kissen abzog, auf seine Nachfrage.
Ob er Martin Pohlmann sei, fragte sie ihn.
Er nickte.
Es brauchte nichts mehr gesagt zu werden. Alles war klar, auch unausgesprochen, und doch war gar nichts klar.
»Sind Sie Kommissar Martin Pohlmann?«, fragte die Schwester erneut. Sie hielt einen weißen Briefumschlag in ihrer Hand und blickte in ein fahles, trauerndes Gesicht, dessen Augen sich röteten, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, und dessen Tränen so echt und rührend die Wangen benetzten, wie warme menschliche Tränen dies eben tun konnten.
»Er hat Ihnen einen Brief hinterlassen.«
Durch einen Schleier hindurch blickte Martin auf den Brief herab. Wieder ein Brief, den ihm jemand gab. Briefe brachten sein Leben in Unordnung, das wusste er nun.
›Für Martin‹ stand auf dem Umschlag mit krakeliger Schrift geschrieben.
»Er hat immer nach Ihnen gefragt. Hat mir Ihre Handynummer gegeben, aber die Nummer schien nicht zu stimmen.«
Vor Martins Augen flackerten Szenen auf, in denen er aus diesem Krankenhaus floh und sich seines Handys entledigen musste.
»Sie seien sein bester Freund, hat er gesagt. Stimmt das?«
Martin bedachte sie mit einem wütenden Blick. Warum sollte das nicht stimmen? Was war mit ihm? Stimmte etwas nicht mit ihm, dass man daran zweifeln könnte?
»Das hat er gesagt?«
Die Schwester nickte.
»Er war ein toller Mann, der Alois. Wir durften ihn alle Alois nennen, darauf hat er bestanden.«
»Was ist denn passiert?«
»Er hat eine Sepsis bekommen, nach einem Darmdurchbruch. Der Körper wird dann mit Bakterien aus dem Darm überschwemmt und er war sowieso schon so geschwächt.«
»Wann …?«
»Gestern Nacht. Am Abend dann konnte er nicht mehr warten. Er wusste, dass er in dieser Nacht sterben würde, und ersuchte mich, ihm zu helfen, damit er sich an den Tisch setzen konnte. Als er fertig war mit dem Brief, habe ich ihn zurück ins Bett gelegt und er bat mich, aus seiner Bibel einen Psalm vorzulesen. Psalm dreiundzwanzig. Sein Lieblingspsalm, wie er sagte. Er würde jetzt zu seinem Hirten gehen und rumblöken. Wir versuchten alle zu lachen, aber es wollte uns nicht gelingen. Er strahlte so übers Gesicht. Nie habe ich einen Menschen so friedlich sterben sehen.«
Die Schwester wischte sich die Tränen ab. Ein Schluchzen durchzog ihren Körper.
»Sie können stolz sein, solch einen Freund gehabt zu haben. Er hat immer nur von Ihnen erzählt, wie von einem Sohn.«
Sie wandte sich ab und lud sich die Wäsche auf den Arm. Mit einem letzten verweinten Grinsen verließ sie den Raum und ließ Martin trauernd zurück.
Er setzte sich auf den Besucherstuhl, auf dem er bei seinem letzten Besuch auch gesessen hatte, zog das Dreieck aus der Lasche und holte den Brief heraus. Eine ganze Seite, mit großer Mühe auf Papier, für alle Ewigkeit in sein Herz geschrieben.
Lieber Martin,
schade, dass wir nicht mehr miteinander reden konnten, aber ich verstehe schon, du hast viel um die Ohren. Nicht eine Sekunde lang habe ich daran gezweifelt, dass du unschuldig bist. Ich wusste immer schon, dass diese haltlosen Vorwürfe nicht wahr sein können, denn schließlich kenne ich dich. Heute Nachmittag kam alles in den Nachrichten. Man hat dich vollkommen rehabilitiert und ich bin stolz auf dich. Der beste Bulle des Nordens, das bist du wirklich. Anders als die meisten, zugegeben, unkonventionell und manchmal tollpatschig, ja, aber für mich warst du schon immer der Beste.
Ich gehe heute Nacht zu meinem Herrn und werde ihm von dir erzählen, Er weiß ohnehin schon eine ganze Menge von dir, Er hat dich ja schließlich gemacht. Ich habe Ihm in den letzten Tagen die Ohren vollgejault und Ihn gebeten, dich zu beschützen. Ich hoffe, du bist wohlauf, sonst muss ich echt Ärger machen da oben.
Aber jetzt hör mir gut zu! Gräme dich nicht länger mit deiner Schuld. Du bist nicht schuld an Sabines Tod, auch nicht am Tod deines Sohnes und manch anderer Menschen, die im Zusammenhang mit deinem Beruf gestorben sind. Lass alles los und werde frei. Lerne, ein glückliches Leben zu führen an der Seite Gottes und deiner bezaubernden Verlobten.
Du hast den Ring doch hoffentlich noch? Steck ihn wieder an und geh nach Hause. Sie war gestern Abend bei mir und hat viele Tränen vergossen. Die
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