Schattennaechte
verfolgt. Es tut mir sehr leid, Lauren. Ich kann mir, da ich selbst Mutter bin, nicht einmal annähernd vorstellen, wie schrecklich das für Sie sein muss.«
Lauren sah betreten weg. Auch wenn offenbar jedes Gespräch zwangsläufig bei diesem Thema landete, konnte sie sich nicht daran gewöhnen.
»Wie es ist, Opfer eines Gewaltverbrechens zu sein, habe ich allerdings am eigenen Leib erfahren«, fuhr Anne fort. »Ich kenne das damit einhergehende Gefühl von Hilflosigkeit und Wut. Ich arbeite im Thomas Center mit den Opfern von …«
Lauren schüttelte den Kopf und hob abwehrend die Hand, sie wollte nichts davon hören. Am liebsten wäre sie aufgestanden und gegangen. »Nein. Nein, danke. Ich kann mit solchen Gruppen nichts anfangen.«
»Das ist Ihnen natürlich unbenommen«, sagte Anne. »Ich will Sie auch nicht zu irgendetwas drängen. Sie sollen nur wissen, dass Sie mich jederzeit anrufen können, wenn Sie einmal jemanden zum Reden brauchen oder andere Hilfe suchen. Das gehört zu meinem Beruf.«
Sie zog eine Visitenkarte aus ihrer Handtasche und schob sie über den Tisch. »Und jetzt Schluss damit. Versprochen. Welche Pizza möchten Sie?«
Lauren nahm die Visitenkarte und studierte sie, um Anne nicht ansehen zu müssen. Anne Leone: Kinderpsychologin, Opferberaterin und Opferbegleiterin vor Gericht. Viel beschäftigt, die Frau.
»Ich wollte nicht unhöflich sein«, murmelte sie.
Anne schüttelte freundlich den Kopf. »Sie sind nicht unhöflich. Ihnen ist etwas Furchtbares widerfahren. Das verstehe ich, glauben Sie mir.«
»Trotzdem, danke für das Angebot.«
»Gerne. Und es bleibt bestehen«, sagte Anne, als die Kellnerin die Getränke brachte. »Probieren Sie den Wein. Wenn Sie noch einen möchten, fahre ich Sie gerne nach Hause.«
Lauren lachte. »Die meisten Therapeuten sind strikt gegen Selbstmedikation.«
Anne zuckte mit den Schultern. »An zwei Gläsern Wein ist noch keiner gestorben. Und ich bin auch keine Therapeutin. Sie machen einen ziemlich erschöpften und ausgelaugten Eindruck. Da kann man ein bisschen Entspannung brauchen.«
»Es war ein langer Tag«, gab Lauren zu. Sie fragte sich, was die Psychologin dazu sagen würde, wenn sie ihr von ihren nachmittäglichen Erlebnissen erzählte. Anne Leone würde ihr vielleicht ein Rezept für einen Daueraufenthalt in einer Gummizelle ausschreiben.
Sie trank einen Schluck von dem Wein. Er war warm und samtig auf der Zunge und rann seidenweich die Kehle hinunter. Sie sah zu der Spielecke hinüber, wo Leah und Wendy über die Kapriolen von Annes kleinem Sohn lachten, der gerade durch ein Meer großer, bunter Plastikbälle tollte.
»Es ist schön, Leah so froh zu sehen«, sagte sie. »Sie hat in letzter Zeit nicht viel zu lachen gehabt.«
»Ein Umzug in dem Alter ist schwierig. Bestimmt vermisst sie ihre Freunde. Aber in Wendy hat sie eine gute Freundin gefunden.
Wendy hat in den letzten Jahren auch einiges durchgemacht«, erklärte Anne. »Ich war ihre Lehrerin in der fünften Klasse. Sie und ein paar Klassenkameraden fanden damals eine Leiche, ein Mordopfer. Das war schlimm für sie, und das, was folgte, war beinahe noch schlimmer. Sie verlor ihren besten Freund. Sie wurde von einem Mitschüler angegriffen. Ihre Eltern ließen sich scheiden.«
»So etwas muss tiefe Wunden hinterlassen«, sagte Lauren.
»Ganz sicher. Kinder, die einen solchen Albtraum durchmachen müssen, haben es schwer. Sie wollen so sein wie ihre Altersgenossen, aber sie sind es nicht. Sie haben Erfahrungen gemacht, die andere Kinder nicht nachvollziehen und mit denen sie nichts anfangen können.«
»Mir geht es nicht anders«, bekannte Lauren. »Und ich bin zweiundvierzig Jahre alt.«
»Sie gehören zu einem Club, für den keiner einen Mitgliedsantrag stellt.«
»Der Mitgliedsbeitrag ist einfach zu hoch.«
»Und man genießt keinerlei Vorteile«, fügte Anne hinzu.
»Da haben wir echt Glück gehabt, was?«, sagte Lauren zynisch und hob ihr Glas zu einem Toast.
»Was mich angeht«, erwiderte Anne, »stimmt das sogar. Denn andernfalls wäre ich tot. Lieber bin ich ein lebendes als ein totes Opfer. Zumindest besteht dann die Möglichkeit, dass es wieder besser wird.«
Ich dagegen wäre lieber tot, wenn dadurch Leslie wieder nach Hause käme , dachte Lauren, sagte es aber nicht. Für einen Abend hatte sie genug von sich erzählt.
6
»Lauren war nicht immer so«, sagte Tanner. »Ich will nicht ungerecht sein. Sie konnte einem wirklich leidtun. Ich kann mir nicht einmal
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