Schattennaechte
und deutete auf ein gemütliches, mit goldfarbener Chenille bezogenes Sofa mit zwei passenden Sesseln, als sie um ihren antiken französischen Schreibtisch herumging. Auf einer Kommode unter den Bücherregalen stand eine Kaffee- und Teemaschine. »Möchten Sie etwas trinken? Ich trinke Pfefferminztee. Morgenübelkeit.«
»Danke, nein.«
Morgenübelkeit hin oder her, Anne Leone sah aus wie das blühende Leben. Besonders im Vergleich zu mir , dachte Lauren.
»Ich hoffe, Sie sind einverstanden, dass Leah heute bei uns übernachtet«, sagte Anne. »Wendy freut sich schon wie eine Schneekönigin.«
»Verreist ihre Mutter?«, fragte Lauren und setzte sich auf einen der Sessel.
»Ja. Sara ist eine mittlerweile nicht mehr ganz unbekannte Bildhauerin und hat gerade erfahren, dass sie in der Nähe von Monterey einen Wettbewerb für Kunst im öffentlichen Raum gewonnen hat. Sie muss zu einer Besprechung hinfahren.«
»Lebt Wendys Vater hier?«
Anne stellte zwei hübsche italienische Becher mit Tee auf den Tisch und setzte sich über Eck von ihr auf das Sofa.
»Das ist eine komplizierte Geschichte«, sagte sie mit einem Seufzen. »Wendys Eltern haben sich vor ein paar Jahren scheiden lassen. Das hat Wendy ihrem Vater nicht verziehen. Sie will nichts mehr mit ihm zu tun haben – außer um ihn zu strafen. Steve ist sehr großzügig und bezahlt die Reitstunden und den Tennisunterricht und die Kleidung …«
Sie nahm ihren Becher und nippte an dem Tee. »Irgendwann wird sie es überwunden haben. Der Vater hat eine Menge Probleme, aber er liebt seine Tochter. Und sie liebt ihn. Sie ist einfach nur verletzt.«
»Die Kinder haben es heutzutage nicht leicht«, sagte Lauren.
»Für Leah ist es sicher besonders schwer – nachdem sie so kurz hintereinander ihre Schwester und ihren Vater verloren hat.«
»Es war ein Albtraum für sie.«
»Wie alt war sie, als ihre Schwester verschwand?«
»Zwölf. Leslie war gerade sechzehn Jahre alt geworden. Sie haben in der Zeit davor viel gestritten. Leah hat ihre Schwester bewundert, aber Leslie war in einem schwierigen Alter. Sie wollte unabhängig sein. Da nervte die kleine Schwester nur. Und dazu ist Leslie auch dauernd mit ihrem Vater aneinandergeraten. Das hat Leah sehr belastet.
Leah braucht Ruhe und Ordnung, alles soll an seinem Platz sein«, sagte Lauren und rieb an einem dunklen Fleck auf ihrer Jeans.
»Und plötzlich war nichts mehr in Ordnung«, erwiderte Anne.
»Und jetzt hat ihre böse Mutter sie auch noch aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen und gezwungen, in eine fremde Stadt zu ziehen.«
»Für einen Neuanfang spricht einiges«, sagte Anne. »Außerdem hat sich Leah hier offenbar sehr schnell etwas aufgebaut, das ihr Sicherheit gibt. Sie hat den Job auf der Ranch. Sie hat in Wendy eine neue Freundin gefunden. Wenn auch ich meinen Teil dazu beitragen kann, freut mich das. Sie braucht sich nicht verloren vorzukommen. Das wird ihr helfen.«
»Ja, bestimmt«, sagte Lauren.
Am liebsten wäre sie aufgestanden und gegangen. Sie wusste, was jetzt kam. Wie steht es mit Ihnen? Geht es Ihnen gut? Wie werden Sie mit alldem fertig? Das übliche Therapeutengequatsche eben. Und sie würde sich ärgern und wütend werden und unhöflich und Anne Leone beschimpfen.
»Kommen Sie doch auch«, sagte Anne leichthin. »Ein Abend mit Kindern ist womöglich nicht besonders verlockend, aber wenn Sie keine Lust haben, allein zu Hause zu bleiben …«
»Das macht mir nichts aus«, sagte Lauren und starrte auf den dampfenden Tee.
»Ich halte das Alleinsein immer noch nicht aus.«
Bei diesen Worten blickte Lauren auf.
Anne zuckte mit den Schultern. »Es ist jetzt fünf Jahre her, aber ich kann immer noch nicht die Haustür öffnen, wenn ich nicht weiß, wer davorsteht. Wenn Vince über Nacht weg ist, kommt ein Deputy und stellt sich mit dem Wagen vor unser Haus, oder einer der Kollegen, der gerade frei hat, schaut vorbei.«
»Was ist damals passiert?«
»Ich wurde zu Hause von einem Serienmörder überfallen und entführt«, sagte Anne nüchtern, so als wären solche Verbrechen an der Tagesordnung. »Er hätte meinen Namen wohl gerne seiner Liste von Opfern hinzugefügt, aber dann hat ihn sein zehnjähriger Sohn im entscheidenden Moment abgelenkt, und ich konnte ihn mit einem Kreuzschlüssel außer Gefecht setzen.«
Lauren starrte sie eine Weile sprachlos an, bevor sie schließlich »Wie furchtbar« herausbrachte.
»Verstehen Sie jetzt?«, fragte Anne. »Als ich sagte, dass ich weiß,
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