Schattennaechte
wie es ist, Opfer eines Gewaltverbrechens zu sein, war das nicht nur so dahergeredet. Ich habe es am eigenen Leib erfahren. Es lässt mich nicht los. Keinen Tag. Und keine Nacht.«
»Es tut mir leid, das wusste ich nicht«, sagte Lauren unwillkürlich, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich komme mir so dumm vor.«
Anne machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Sie brauchen nichts zu sagen. Ich wollte nicht, dass Sie …«
»Nein«, sagte Lauren. »Ich ärgere mich immer, wenn die Leute sagen, dass es ihnen leidtut. Was soll ihnen denn leidtun? Und jetzt sage ich es selbst, und mir wird klar, dass die Leute sich dumm vorkommen, weil ihnen nichts Besseres einfällt.«
»Was sollen sie sonst auch sagen?«, erwiderte Anne.
»Ich weiß nicht. Vielleicht: Hoffentlich landet das Dreckschwein für das, was es dir angetan hat, in der Hölle?«
Anne lachte. »Das gefällt mir! Genau das würde ein echter Freund sagen!«
Lauren musste kichern. »Ich weiß mich einfach auszudrücken, Sie sind sicher beeindruckt.«
»Stimmt«, sagte Anne und lächelte sie freundlich an. »Vielleicht sollten wir zusammen ein Benimmbuch für die Opfer von Gewaltverbrechen und ihre Familien und Freunde schreiben.«
»Gute Idee«, stimmte Lauren ihr zu. »Die erste Regel lautet: Du sollst keine Aufläufe vorbeibringen.«
»Das wird der Titel!«
»Oh, ja!«
Was für ein wunderbares Gefühl, mal wieder zu lachen , dachte Lauren, als sie sich vorbeugte und den Becher mit Pfefferminztee nahm. Es war irgendwie … befreiend. So als habe sich ein Ventil geöffnet und ein wenig Druck würde entweichen.
»Was würden die Leute denken, wenn sie uns Witze über so etwas machen hören?«, fragte sie.
»Sie würden es nicht verstehen«, sagte Anne. »Das kann man aber auch nicht von ihnen erwarten. Sie können es nicht verstehen.«
»Stimmt, woher auch?«, sagte Lauren, wieder ernst, und dachte an das Gespräch vom Abend zuvor. Sie gehören zu einem Club, für den keiner einen Mitgliedsantrag stellt.
»Wir tun alles, um damit fertigzuwerden«, sagte Anne. »Es ist egal, was die anderen denken.«
»Er ist im Gefängnis, oder?«, fragte Lauren. »Der Mann, der sie angegriffen hat.«
»Er hat einen Deal ausgehandelt. Aber zumindest die nächsten Jahre verbringt er in einer Zelle.«
»Er hat mehrere Menschen auf dem Gewissen!«
»Es gab nicht genug Beweise, um ihn wegen dieser Morde anzuklagen.«
Lauren schloss die Augen. Ihre Geschichten ähnelten sich allzu sehr. Ein Serienmörder konnte mangels Beweisen nicht wegen seiner Morde belangt werden. Roland Ballencoa konnte mangels Beweisen nicht wegen der Entführung ihrer Tochter belangt werden.
Gab es denn überhaupt keine Gerechtigkeit?
Sie stellte sich vor, wie Ballencoa irgendwo in der Stadt in einem Café saß und frühstückte. Vielleicht fiel er jemandem auf, vielleicht beobachtete ihn jemand, dachte sich aber nichts dabei. Die Leute hatten keine Ahnung, wer oder was er war. Weil es keine Beweise gab.
Sie wusste genau, was er getan hatte, hatte aber keine Beweise.
Ihr Herz schlug ein wenig zu schnell. Ihr wurde schlecht. Schweiß stand ihr auf der Stirn.
»Ich muss gehen«, sagte sie unvermittelt. Sie stellte den Teebecher ab und erhob sich, ohne Anne dabei anzusehen. »Dann hole ich Leah morgen früh ab.«
»Nicht nötig«, sagte Anne. »Ich kann sie gerne mit zur Ranch nehmen. Wendy hat für morgen früh eine Extra-Reitstunde für sich herausgeschlagen. Ich fahre sowieso hin.«
»Das ist nett«, stammelte Lauren. »Danke.«
Sie spürte Anne Leones Augen auf sich ruhen, aber sie wagte nicht, den Blick zu erwidern.
»Danke auch, dass Sie sie bei sich schlafen lassen«, fuhr sie fort. »Ich bin sicher, dass es ihr Spaß machen wird.«
»Das tu ich gerne«, sagte Anne.
Wenn sie Laurens Verhalten merkwürdig fand, ließ sie es sich nicht anmerken. Sie unternahm auch keinen Versuch, sie aufzuhalten.
Lauren nahm den Hinterausgang. Die Sonne blendete sie. Sie tastete nach der Sonnenbrille auf ihrem Kopf. Eines der Nasenpads hatte sich in ihren Haaren verfangen. Ungeduldig und mit zitternden Händen versuchte sie, es zu lösen.
»Scheiße, Scheiße!«, fluchte sie und schleuderte die Brille zu Boden, als sie sie endlich aus ihren Haaren gezogen hatte. Sie fiel mit den Gläsern auf den Kies.
Wütend trat Lauren gegen die zerkratzte Brille, dann bückte sie sich, hob sie auf und warf sie gegen das Beifahrerfenster ihres BMW . Die Brille prallte ab und fiel erneut auf den Boden.
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