Schattennetz
wie die anderen beiden Männer die Schilderungen Häberles aufmerksam verfolgt hatte, unterbrach jetzt: »Aber umgebracht wurde Simbach, nicht Korfus.«
»Ich bin auch noch nicht am Ende«, erwiderte Häberle. Er wollte gerade mit seinen Ausführungen fortfahren, als die Metalltür am Ende des Flurs hallend und scheppernd ins Schloss fiel und sogleich näher kommende Schritte zu hören waren. Die Kerzen flackerten aufgeregt, weil es einen Luftzug gegeben hatte.
Häberle zögerte und die anderen sahen sich fragend an. Weil die Tür zu ihrem Raum einen Spalt weit offen stand, konnten sie jeden einzelnen Schritt vernehmen. Derjenige, der da kam, trug mit Sicherheit festes Schuhwerk. Oder Lederstiefel.
Simbach sprang als Erster auf, gefolgt von den anderen. Häberle wusste nicht so recht, wie er sich verhalten sollte. Jedenfalls schien eine Situation eingetreten zu sein, mit der niemand gerechnet hatte. Er als der Außenstehende, so befürchtete er, würde wohl kaum die Rolle des lachenden Dritten spielen dürfen. Jetzt riss Simbach die Tür mit einem Ruck auf und gab den Blick auf den finstren Flur frei. Aus ihm löste sich eine Gestalt, die im Kerzenlicht langsam Konturen annahm. Häberle stockte der Atem. Mit diesem Mann hätte er nicht gerechnet. Nicht jetzt.
Die Dekanin sah in ein müdes Gesicht. Der gewohnte Dreitagebart war außer Kontrolle geraten. Korfus roch schlecht. »Darf ich rein?«, fragte er und kam, ohne aufgefordert zu werden, in den Flur. Die Theologin wich zurück und schloss die Tür. »Kommen Sie rauf«, sagte sie und ging voraus.
»Verstehen Sie mich nicht falsch«, erklärte Korfus hinter ihr. »Ich bin nicht als Kirchengemeinderat gekommen, sondern um mich mit Ihnen zu unterhalten. Über alles.«
Die Dekanin sagte nichts. Ihr sehnlichster Wunsch, sich schlafen zu legen, würde sich nach Lage der Dinge so schnell nicht erfüllen.
Sie bot Korfus im Büro einen Platz an, während sie sich wieder in ihren Schreibtischstuhl setzte. »Darf ich Ihnen was anbieten?«, fragte sie höflichkeitshalber. Er verneinte.
»Sie wissen, dass ich jederzeit für Sie da bin«, sagte sie pflichtgemäß.
»Danke. Sie dürfen über mich denken, was Sie wollen, aber für mich ist es an der Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen. Entweder alles beenden …« – er wollte sich offenbar nicht eingestehen, dass er keinen Mut gehabt hatte, diesen Entschluss heute umzusetzen – »oder versuchen, das Schreckliche zu bewältigen. Zu bewältigen, was nicht mehr rückgängig zu machen ist.« Er schloss die Augen.
»Gott kann verzeihen, wenn wir ihn darum bitten. Die Menschen aber sind gnadenlos«, stellte die Theologin fest.
»Ja, gnadenlos«, wiederholte er tonlos und hatte Mühe, ihr in die Augen zu sehen.
»Kommt zu mir, die ihr mühselig und beladen seid«, zitierte die Theologin aus der Bibel.
»Den ganzen Tag über hab ich mit mir gekämpft …«, begann Korfus, ohne seinen sächsischen Dialekt zu verbergen. »Eigentlich ist es albern, jetzt zu Ihnen zu kommen.«
»Es ist nie zu spät, seine Sünden zu bekennen«, blieb die Dekanin theologisch. Nach den Recherchen, die sie und Ursula Schanzel in den vergangenen Tagen angestellt hatten, glaubte sie, die Probleme des Mannes zu kennen.
»Es geht nicht nur um mich«, sagte er, als habe er ihre Gedanken erraten. »Sie müssen Schlimmeres verhindern.«
Sie war mit einem Mal hellwach. »Was wollen Sie damit sagen?«
»Ich weiß nicht, ob Sie jemals was von Holzapfel gehört haben …« Er saß aufrecht vor ihr. Aufrecht und nervös.
»Holzapfel?« Für einen Moment war die Dekanin irritiert, dann jedoch wurde ihr bewusst, dass Ursula Schanzel davon gesprochen hatte. Bei irgendwelchen Recherchen waren sie darauf gestoßen. Es war der Deckname eines Führungsoffiziers der Stasi.
»Ich weiß nicht, wie sicher meine Quelle ist. Aber dieser Holzapfel soll bei der Kriminalpolizei in der Niederlausitz untergekommen sein.«
Die Theologin spürte, wie ihr Blutdruck stieg.
»Und ich hab gehört, dass dieser Kommissar Häberle heut rübergefahren ist«, erklärte Korfus weiter. »Ich …« Er wollte das Schreckliche nicht direkt ansprechen, »ich möchte vermeiden, dass es noch mehr Tote gibt. Verstehen Sie?«
Die Dekanin verstand. Sie sah auf die digitale Anzeige der Tischuhr: 22.35 Uhr. Warum meldete sich bei diesem Korfus erst so spät das Gewissen?, hämmerte es in ihrem Kopf. Jetzt, wo es schon zu spät sein konnte.
45
»Was soll das?«, herrschte Simbach die
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