Schattennetz
»Ich bins. Korfus. Machen Sie bitte auf.«
Die Dekanin blieb am Schreibtisch der Sekretärin stehen und malte sich aus, was dies alles bedeuten konnte. Sollte sie runtergehen und öffnen oder vorsichtshalber die Polizei rufen? Aber sie war sich doch sicher gewesen, dass nicht Korfus sie vorige Nacht erschreckt hatte. Oder vielleicht doch? Sie brauchte noch einmal ein paar Sekunden, bis sie sich vergegenwärtigte, dass es sich bei Korfus schließlich um einen Kirchengemeinderat handelte und dass er – egal, was er auch getan hatte – durchaus ein Recht haben würde, mit ihr zu reden.
Sie knipste im Büro der Sekretärin und im Flur das Licht an, ging die Holztreppe hinab, die unter jedem Schritt ächzte, und blieb noch kurz vor der geschlossenen Tür stehen. Und wenn doch alles anders war?, dachte sie.
44
Die Stimmung, so spürte Häberle, war umgeschlagen. Er überlegte, ob es Zufall oder gewollt war, dass er in der hintersten Ecke Platz genommen hatte. Doch er ließ sich diese Gedanken nicht anmerken. »Sergije war derjenige, der ziemlich lange mit Ihrem Handy, Herr Kissling, verbunden war – während der Besitzer jenes Handys, das Sie offenbar unbedingt wollten, in ein Gewerbegebiet gelockt wurde, wo er es in einen gelben Eimer werfen musste.« Häberle fügte bekräftigend hinzu: »In einen gelben Eimer, wie es sie zuhauf in der Getränkehandlung Ihres Bruders gibt, wo Sergije beschäftigt ist«, wandte er sich an Simbach.
Oehme griff zu seinem Colaglas und trank. Kissling schnappte nach Luft. »Und gleich werden Sie behaupten, ich sei der Auftraggeber gewesen, Antons Bruder umbringen zu lassen«, schnaubte er und sah die anderen Männer ängstlich an.
»Das werde ich nicht«, beruhigte Häberle und besah sich das Werbeplakat der NVA. »Ihnen ging es wirklich nur um das Handy, das im Übrigen für den Finder völlig uninteressant war. Herr Simbach hatte kein Adressbuch gespeichert – und auch sonst nichts. Vermutlich hatte er – wenns denn überhaupt Geheimnisvolles gab – alles mit einem Passwort abgespeichert. Aber ich denke, das Handy ist inzwischen bei Ihnen gelandet.« Keiner der Männer machte Anstalten, dies zu dementieren oder zu bejahen. Sie schienen jedoch erleichtert zu sein. »Und wer hat Ihrer Ansicht nach meinen Bruder umgebracht?«, wagte Simbach jetzt einen Vorstoß.
»Da könnte es in der Tat mehrere Möglichkeiten geben. Vielleicht war es Czarnitz, Ihr ehemaliger Chef«, erklärte der Chefermittler an Landowski gerichtet. »Und danach hat er das Handy gesucht und übersehen, dass die Gebetsglocken im Sommer erst um 20 Uhr läuten.« Häberle wartete. »Oder wars der Herr Oehme?« Er sah nun dem Letztgenannten in die Augen. Von ihm wissen wir, dass er in Hohenschönhausen die Zeit von gestern nicht in Vergessenheit geraten lassen will. Aber auf andere Art, als dies die einstigen Regimeopfer wollen.«
Oehme wollte etwas entgegnen, aber Häberle kam ihm zuvor: »Sie brauchen nichts zu sagen. Dass großer Bedarf besteht, das Schattennetz der Vergangenheit im Zaum zu halten, ist auch mir klar. Und an allem hat hier im Raum nur einer den großen Anteil.« Er drehte sich zu Simbach um. »Sie haben Ihren Bruder wieder auf Linie bringen wollen, als er zur Wendezeit von Ihren Idealen abgedriftet ist. Er und schließlich auch Korfus. Sie haben aus der Ferne einen Keil reingetrieben – zwischen ihn und seine Frau.«
Simbachs Augen nahmen ein gefährliches Funkeln an. »Ich hoffe, Sie wissen, was Sie jetzt sagen«, drohte er.
Häberle lehnte sich gelassen zurück. »Sie dürfen mich gerne berichtigen. Aber es war in Ihren Augen ein absolutes Unglück, dass Ihr Bruder und Korfus in Geislingen zusammengetroffen sind. Zwei mit gleichem Schicksal, aber doch so unterschiedlich. Sie haben Ihrem Bruder letztlich klargemacht, dass er zu spuren hat – denn ein Todesschuss an der Grenze wird auch heute noch verfolgt. Und was Korfus getrieben hat – ich nehm an, Sie wissen es. Wär der aufgeflogen, hätte er kaum noch etwas zu verlieren gehabt. Er hätte womöglich auch Ihnen gefährlich werden können. Schließlich«, Häberle sah ihn provozierend an, »ja, schließlich haben Sie auch nicht die feinste Vergangenheit und haben an Ostern 1989 ein Mädchen festnehmen lassen, das dummerweise später Korfus’ Ehefrau wurde.« Der Kriminalist gab sich selbstsicher. »Spätestens als Ihr Herr Bruder mit dieser Frau ein Techtelmechtel anfing, machte es Sinn, den Herrn Korfus zu beseitigen.«
Kissling, der
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