Schattennetz
Dienstagabend bei uns geschehen ist.«
Niemand sagte etwas. Häberle spürte, wie die Luft durch die Kerzen schlechter wurde. Er schwitzte, obwohl es ihm beim Betreten des Untergeschosses kühl vorgekommen war. Beiläufig fingerte er nach seinem Handy, das er in der linken Hosentasche stecken hatte. Auf der mittleren Taste, der Fünf, hatte er die Handynummer des Kollegen Holler als Schnellwahl programmiert. Vorausgesetzt, es gab ein Funknetz, was hier unten eher unwahrscheinlich war, würde auf diese Weise das Signal zum Einsatz erfolgen. Nun sah es aber so aus, als sei er auf sich allein gestellt.
»Der bedrohte Mann wurde nämlich ferngesteuert dirigiert – auf raffinierte Weise«, erklärte Häberle mit leichtem Grinsen. »Er wurde auf seinem eigenen Handy von einer Telefonzelle aus Dresden aus angerufen. Wieder also eine Telefonzelle. Ein genialer Plan. Erstens war der Anrufer auf diese Weise nicht herauszufinden – und zweitens konnte sichergestellt werden, dass nicht die Polizei an einem bestimmten Übergabeort in Stellung gehen konnte.«
Die Männer nickten zaghaft.
»Allerdings – und jetzt kommts …« Wieder sah Häberle zu Kissling, auf dessen Stirn sich feine Schweißperlen bildeten. »Man musste natürlich wissen, ob der Bedrohte den Anweisungen auch nachkam. Und ob er eventuell nicht doch von der Polizei observiert wurde. Also hat man einen … ja, nennen wirs ruhig so … einen Spitzel mit ins Gelände geschickt, der gleichfalls mit Dresden verbunden war – aber per Handy. Das war gefahrlos möglich, denn es würde ja nicht mit dem verfolgten Mann in Verbindung gebracht werden können.« Häberle sah Kissling fest an. »Und das Handy, das in Dresden benutzt wurde, gehörte Ihnen …«
»Mein Handy … ja«, stammelte Kissling. »Aber es muss ja nicht zwangsläufig ich gewesen sein, der damit telefoniert hat.« Er hatte sich schnell wieder gefangen.
»Sehr richtig«, räumte Häberle sachlich ein. »Lassen wir dies also vorläufig außer Betracht. Interessant ist aber, mit wem die Verbindung bestand.«
Wieder trat absolute Stille ein. Nur das Flackern der Kerzen verursachte ein friedliches Geräusch.
»Dieser Name lässt nämlich aufhorchen: Sergije«, erklärte Häberle.
Die Dekanin hatte an diesem turbulenten Tag nach den Vernehmungen und Protokollen bei der Polizei mehrere Gespräche geführt und dabei auch den Kirchengemeinderat zusammengerufen, von dem allerdings nur Faller und zwei weitere Personen erschienen. Ursula Schanzel hatte sich mit dem Hinweis darauf, dass sie sich um Sabrina und Liliane kümmern wolle, abgemeldet. Dafür waren zu der Sitzung auch Stadtpfarrer Cornelius Kustermann und Kirchenmusikdirektor Stumper gekommen. Sie konnten sich jedoch nicht erklären, wer in der vergangenen Nacht in das Dekanatsamt eingebrochen war. Wäre es aber Korfus gewesen, so gab die Dekanin zu bedenken, hätte sie ihn erkennen müssen. Außerdem sei dieser in der Nacht zuvor auch selbst Ziel eines Anschlags gewesen. Dennoch nahm man zufrieden zur Kenntnis, dass offenbar Kommissar Häberle trotz dieser Ereignisse nach Bischofswerda gefahren war, weil er sich dort vermutlich wichtige Hinweise erhoffte. Die Dekanin hatte das polizeiliche Angebot auf Personenschutz abgelehnt, da sie doch bewiesen hatte, dass sie selbst auf sich aufpassen könne.
Nach dem Gespräch mit den Kirchengemeinderäten blieb sie allein in ihrem Büro zurück, um nun Dokumente, Ausdrucke, Faxe und handschriftliche Notizen zu sichten und zu sortieren. Sie fühlte sich gegen 22 Uhr matt und schlapp. Eigentlich hätte sie noch die Predigt für Sonntag vorbereiten wollen. Doch dann entschied sie sich dazu, am morgigen Samstag früher aufzustehen.
Sie war gerade im Begriff, ihr Büro zu verlassen, als es an der Haustür klingelte. Die Theologin blickte automatisch auf die beleuchtete Anzeige einer Digitaluhr, die auf dem Besprechungstisch stand. Einen Augenblick lang überlegte sie, ob sie an die Sprechanlage gehen sollte. Wer immer auch geklingelt haben mochte, er hatte jedenfalls sehen können, dass hier oben noch Licht brannte.
Die Theologin verharrte unschlüssig, dann ging sie ins Büro ihrer Sekretärin, von wo aus man die Sprechanlage betätigen konnte. Sie drückte auf den Sprechknopf und sagte »Hallo?«
»Haben Sie ein paar Minuten für mich Zeit?«, fragte eine Stimme durch den Lautsprecher vorsichtig.
»Wer ist da?«
Irgendwie kam ihr die Stimme bekannt vor.
Der Mann unten an der Haustür zögerte.
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