Schattennetz
Erscheinung verlieh der rhetorischen Argumentation zudem optisch einen gewissen Nachdruck.
»Ich kann nicht nachvollziehen, dass Herr Simbach heute ferngeblieben ist«, stellte sie mit strengem Unterton fest, nachdem sie die Sitzung des ›Runden Tisches‹ eröffnet hatte. Sie blickte in die Runde der fünf Männer und zwei Frauen, die sich um den großen Besprechungstisch gruppiert hatten. Ihr gegenüber, an der anderen Stirnseite, saß Kirchenmusikdirektor Tilmann Stumper, links von ihr war der Platz von Konrad Faller, daneben der des Stadtpfarrers.
»Damit …« Sie hielt kurz inne und schichtete mehrere Schnellhefter um, die sie vor sich auf der Tischplatte liegen hatte, »damit wird es wohl kaum möglich sein, das Thema mit der nötigen Sorgfalt zu behandeln.« Sie blickte streng von einer Person zur anderen, ohne in einem der Gesichter eine Regung erkennen zu können. Niemand schien offenbar großes Interesse daran zu haben, das heiße Eisen anzupacken – schon gar nicht vor den Sommerferien. Dabei hatte sie, als die Unruhe größer geworden war, eigens eine Sitzung einberufen, die aus Mitgliedern des Kirchengemeinderats und des ›Arbeitskreises Kirchensanierung‹ bestand. Sie alle sollten ihre Meinung äußern.
Konrad Faller hob andeutungsweise die Hand, wartete aber gar nicht ab, bis ihm das Wort erteilt wurde.
»Ich bedaure sehr, dass wir unter diesen Umständen keine Klärung herbeiführen können. Weiß denn niemand, weshalb Herr Simbach nicht gekommen ist?« Er sah in ausdruckslose Gesichter. Tilmann Stumper wich ihm aus. »Schließlich müsste er doch im Lande sein, jetzt, da das Stadtfest stattfindet.«
Dekanin Gertrud Grüner blätterte in ihren Akten und schien das Thema bereits abgehakt zu haben.
Eine Dame mittleren Alters wagte einen zaghaften Vorschlag: »Und wenn uns der Herr Korfus die Situation schildert?«
Die Augen waren jetzt auf einen athletischen Mann gerichtet, der zwischen den beiden weiblichen Gremiumsmitgliedern saß und auf einen Kugelschreiber starrte, den er nervös in den Händen drehte. Er tat so, als fühle er sich nicht angesprochen. Dabei war er eine der Hauptpersonen.
»Herr Korfus hat uns seine Sicht der Dinge bereits zu Protokoll gegeben«, stellte die Dekanin knapp fest, ohne von ihren Akten aufzublicken. »Seinetwegen hätten wir uns nicht die Mühe machen müssen, uns heute zu treffen.« Allein schon der spitze Tonfall ließ erkennen, wie unangenehm ihr dies alles war. »Ich hätt jetzt gerne die Gegenseite gehört und dann die Konsequenzen gezogen«, dozierte sie. Korfus blickte nicht auf.
Konsequenzen, hatte sie gesagt. Darum würden sie alle nicht herumkommen. Die Frage war nur, wie diese aussahen und wie sie in der Öffentlichkeit aufgenommen wurden. Seit Tagen schon blätterte die Dekanin allmorgendlich die örtliche Tageszeitung mit gemischten Gefühlen durch. Irgendwann, das stand zu befürchten, würde die Bombe platzen. Inständig hatte sie gehofft, dass dies nicht noch vor den Ferien geschehen würde. Am liebsten hätte sie die Angelegenheit hier und heute geregelt, um dann am Dienstag, nach dem Stadtfest, eine Pressemitteilung herauszugeben und damit klare Verhältnisse zu schaffen. Doch jetzt hatte dieser Simbach gekniffen.
Sie kochte innerlich. Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst. Irgendetwas in ihrem Kopf erinnerte sie an dieses Gebot. Sie war schließlich Theologin. Aber andererseits oblag es ihr, die Probleme innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs zu beseitigen. Und hier schwelte etwas, das keinen langen Aufschub mehr duldete.
»Wir werden das Thema vertagen«, entschied sie und machte damit deutlich, dass sie keine weitere Diskussion mehr wünschte. »Dann wird entschieden – und zwar mit oder ohne Herrn Simbach.« Ihr Blick wanderte zu Torsten Korfus, der wie immer einen Dreitagebart trug und seinen durchtrainierten Oberkörper in einem viel zu weiten dunkelblauen Sweatshirt versteckt hatte. »Dann werden wir selbstverständlich auch Herrn Korfus Gelegenheit zu einer persönlichen Stellungnahme geben.« Er sah auf und nickte zustimmend. Der junge Stadtpfarrer warf ihm einen verständnisvollen Blick zu.
Faller suchte erneut den Blickkontakt mit Stumper. Doch auch der wagte keinen Einwand. Es war für alle Beteiligten das Beste, vorläufig zu schweigen.
Alexander Simbach war nicht heimgekommen. Sabrina und ihre Tochter hatten dies auch nicht erwartet. Beide waren inzwischen zu der Überzeugung gelangt, dass es am besten
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