Schattennetz
Ehrengäste und auch schon einige andere Besucher zum Vorplatz der Stadtkirche gekommen, wo in diesem Jahr der offizielle Fassanstich für den ›Hock‹ stattfand. Die Biertischgarnituren waren gut besetzt, als neben dem Standbild Kaiser Wilhelms I. der Fanfarenzug der Freiwilligen Feuerwehr das musikalische Signal für den Beginn des Stadtfestes setzte. Auf einer hölzernen Showbühne, die direkt vor dem südlichen Portal der Stadtkirche stand, bereiteten sich unterdessen drei Männer auf die Eröffnung vor: Oberbürgermeister Hartmut Schönmann, Bierbrauer Friedrich Kaiser und Festorganisator Detlef Stenzli, der in seiner weißen Kochkleidung erschienen war. Von der Fußgängerzone, die in einen riesigen Biergarten verwandelt war, strömten immer mehr Menschen zur Showbühne bei der Kirche. Als die Fanfarenklänge verhallt waren, schaltete Stenzli das Mikrofon ein und hieß die Gäste willkommen. Er zeigte sich erfreut darüber, dass die Planungsphase diesmal ohne interne Reibereien erfolgt sei und wertete dies als gutes Omen für das bevorstehende Festwochenende.
»Hoffentlich täuscht er sich da nicht«, flüsterte an einem der Prominententische ein älterer Herr seiner Tischnachbarin zu. Die verstand offenbar nicht so recht, was damit gemeint war. Erst als der Mann zum Himmel deutete, war ihr klar, dass sich die Bemerkung auf das aufziehende Gewitter bezog.
Oberbürgermeister Schönmann trat ans Mikrofon. Frisch frisiert, den dünnen Backenbart exakt geschnitten, also wie aus dem Ei gepellt, präsentierte sich der sportlich schlanke Rathauschef dem Publikum, lächelte freundlich, wie er dies bei solchen Anlässen immer tat, und gab sich so selbstbewusst wie nie. Nicht einmal die Anwesenheit seines Amtsvorgängers Michael Schlauch, der sich wieder unter die Prominenten gemischt hatte, konnte ihn heute aus dem Konzept bringen. Lange Zeit war er in solchen Situationen irritiert und sogar verunsichert gewesen. Zwar hatte er vor acht Jahren den Verwaltungsfachmann Schlauch, der als übermächtig galt, mit großer Stimmenmehrheit aus dem Amt katapultiert, doch war Schönmann unterschwellig vorgeworfen worden, die Wahl nur gewonnen zu haben, weil viele Bürger dem anderen für dessen selbstherrliches Auftreten einen Denkzettel verpassen wollten. Hartnäckig hielt sich deshalb die Behauptung, Schönmann sei selbst von seinem damaligen Wahlerfolg überrascht gewesen, zumal er als Diplomingenieur weder die Führungsqualitäten noch die Fachkenntnisse der öffentlichen Verwaltung besaß. Sogar die Dekanin hatte ihm damals geraten, die Wahl nicht anzunehmen. Ihr wäre der andere Kandidat schon wegen seines Engagements innerhalb der Evangelischen Kirche lieber gewesen.
Doch jetzt, nach der jüngst erfolgten Wiederwahl, war alles anders. Jetzt bestand kein Zweifel mehr, dass Schönmann bewusst gewählt worden war – und dies sogar trotz zweier ernstzunehmender Gegenkandidaten. Daran musste auch Konrad Faller denken, der mit seiner Ehefrau am Tisch der Kirchengemeinderäte saß. Zwei Bänke weiter hatte er die Dekanin, den Stadtpfarrer und den ehemaligen Oberbürgermeister Schlauch entdeckt. Fallers Gedanken schweiften ab. Während Schönmann zum hölzernen Schlegel griff, um mit dem Fassanstich eine der wichtigsten Amtshandlungen im Jahresverlauf vorzunehmen, dachte er an jene ›Hock‹-Eröffnung, als Schlauch den Zapfhahn besonders kräftig hineindonnern wollte. Den hatte damals allerdings der Bierbrauer gehalten – mit fatalen Folgen: Schlauchs kräftiger Schlegelhieb verfehlte die Spitze des Zapfhahns und traf stattdessen den Daumen des Brauers. Faller musste in sich hineingrinsen und plötzlich feststellen, dass er den aktuellen Fassanstich überhaupt nicht mitbekommen hatte. Abgesehen von einigen Spritzern Bier, die nach allen Seiten herausgezischt waren, schien alles nach Plan abgelaufen zu sein. Beifall. Fanfarenklänge.
»Er hat was gelernt«, kommentierte Schlauch nun den Fassanstich so laut, dass es alle an seinem Tisch verstehen konnten. Ein Tischnachbar aus den eigenen politischen Reihen wagte die spitze Bemerkung: »Sie habens ihm ja vorgemacht, wie mans nicht machen soll.« Schlauch ignorierte das.
Der Oberbürgermeister hatte inzwischen wieder am Prominententisch Platz genommen, wo ihm ein braun gebrannter Mann mit markantem Schnauzbart gegenübersaß. Es war Andy Ebner, der Bürgermeister der sächsischen Partnerstadt Bischofswerda. Der ›Hock‹ bot alljährlich eine willkommene Gelegenheit, die
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