Schattenprinz 02 - Der Prinz der Klingen
Prolog
Der Schnee, der so widernatürlich aus wolkenlosem Herbsthimmel über die Stadt gekommen war, taute fast so schnell, wie er gefallen war. Ein Mädchen spielte mit den Rinnsalen aus Tauwasser, die über die enge Gasse im Gerberviertel zum Kristallbach liefen. Es legte dem Wasser kleine und größere Steine in den Weg und freute sich, wenn es doch einen Pfad um das Hindernis herum fand. Es war ein fesselndes Spiel, das das Mädchen so sehr in Anspruch nahm, dass es seine Umgebung schon lange nicht mehr beachtete.
» Das sind aber schöne Steine, mit denen du da spielst«, sagte eine samtene Stimme.
Das Mädchen blickte auf. Vor ihm stand eine große Frau, gehüllt in einen grauen, abgetragenen Mantel, und sah ihm zu. Es nickte ernst und legte einen neuen weißen Stein in das Rinnsal. Aber das Wasser fand auch jetzt wieder einen Weg.
» Würdest du mir einen schenken?«, fragte die Frau und lächelte.
Das Mädchen betrachtete die Frau von oben bis unten, fand, dass die weißen Haare nicht zu dem alterslosen, etwas müde wirkenden Gesicht passten, und schüttelte dann den Kopf.
» Ich verstehe«, sagte die Frau mit ernster Freundlichkeit. » Aber vielleicht magst du mit mir tauschen?«
Sie hielt plötzlich einen Apfel in der schlanken Hand.
Das Mädchen zögerte, aber der Apfel war rot und glänzte verführerisch in der Abendsonne. Es nickte, wählte den kleinsten seiner Steine aus, lief hinüber zu der Frau und hielt ihr den Stein auf der flachen Hand hin.
» Warte, gib ihn mir nicht hier. Trage ihn für mich doch noch dort hinüber, in den Schatten. Er sieht sehr schwer aus, weißt du«, bat die Frau freundlich.
» Gar nicht schwer«, sagte das Mädchen und blieb stehen, als sich die Frau zwischen zwei engstehenden Häusern in den Schatten setzte. Sie schien beinahe zu verschwinden. Nur der Apfel leuchtete noch rot aus dem Zwielicht und lockte.
Das Mädchen hüpfte hinüber und legte der Frau den Stein in die kalten Finger.
» Du bist sehr freundlich, Kind. Sag, bevor ich dir den Apfel gebe, wo sind denn all die anderen Menschen?«
Das Mädchen zuckte mit den Schultern. » Der Herzog ist tot. Und jetzt sind alle drüben an der Burg. Hast du das nicht gewusst, Großmutter?«
» Nein, mein Kind, ich war mit anderen Dingen beschäftigt, und ich gehe Menschen, vor allem, wenn es sehr viele sind, lieber aus dem Weg.«
Das Mädchen nahm den Apfel, aber die Frau ließ ihn nicht los. » Bevor ich ihn dir gebe, beiße doch einmal hinein und sage mir, wie er schmeckt.«
» Weißt du nicht, wie ein Apfel schmeckt?«
Für einen Augenblick bekam das Lächeln der Frau etwas Gequältes. » Ich weiß sehr wohl, wie Äpfel schmecken, jedenfalls wusste ich es einmal. Doch ich weiß natürlich nicht, wie dieser Apfel schmeckt, mein Kind. Und deshalb musst du den Geschmack für mich beschreiben. Willst du das mir zuliebe tun?«
Das Mädchen nickte ernst und nahm den Apfel nun beinahe ehrfürchtig in die Hand.
» Du musst die Augen schließen, Kind, dann ist der Geschmack stärker.«
Das Mädchen gehorchte, schloss die Augen und biss voller Vorfreude in den roten Apfel. » Süß«, sagte es kauend, » und ganz viel Saft.« So sah es das ernste Lächeln nicht, und es sah nicht, wie die Frau einen sehr schmalen Dolch aus den Falten ihres Gewandes hervorzog. Nur das Geräusch, als der Stahl aus der Scheide fuhr, das hörte es, aber es öffnete die Augen nicht, denn der Apfel schmeckte einfach zu süß.
Erster Tag
Es war nur ein kleiner Ausschnitt der Welt, den Prinz Sahif at Hassat durch den Eingang des Stollens sehen konnte. Der Schnee schmolz selbst hier in den Bergen schnell von den Felsen. Es war ruhig dort draußen, nur ein stetiges Tropfen war zu hören, und nichts, nicht einmal ein Tier, rührte sich. Sahif hatte sich in der Nacht in dem Bergwerk versteckt. Erst hatte er sich in der Tiefe des Stollens verkrochen, aber bald bemerkt, dass dieser nicht so tief war, wie er es sich gewünscht hätte. Es war eines der Silberbergwerke, die einst so zahlreich um Atgath herum entstanden und alle schnell wieder aufgegeben worden waren, weil die Mahre das Silber, das es eigentlich reichlich in diesen Bergen gab, vor den Menschen versteckt hatten. Das hatten sie ihm selbst erzählt, diese Berggeister, die den alten Geschichten entstiegen zu sein schienen.
Es war ein schlechtes Versteck, aber Sahif hatte kein besseres. Also blieb er in der Nähe des Ausgangs und starrte Stunde um Stunde hinaus. Er konnte dort
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