Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
nicht zur Aufforderung. Ich trat auf sie zu und zog sie an mich. Der schwache Duft von Maiglöckchen stieg mir in die Nase und gab mir eine Antwort darauf, warum all das hier es wert gewesen war. Der Gedanke, sie aufgeben zu müssen, war unerträglich.
»Du weißt nicht, wie froh ich bin, dich zu sehen«, flüsterte ich ihr leise ins Ohr. »Hör zu, ich muss jetzt zurück in die Sphäre. Können wir uns heute Abend in eurem Garten treffen?«
Kurz befürchtete ich, sie könnte mir eine ausweichende Antwort geben. Doch nach einem kurzen Zögern sagte sie »Ja«.
Sanft befreite Mila sich aus meiner Umarmung und ging zu ihrem Bruder hinüber, der sofort den Arm um ihre Schultern legte und sich auf sie stützte wie ein verwundeter Krieger. Ich sah ihnen nach, wie sie langsam die Klippe runterwanderten.
Neben mir begann Ranuken nervös zu zappeln. »Bald wird es hell«, ließ er mich wissen. Als ich nicht reagierte, zappelte er noch ein wenig weiter, dann setzte er nach. »Drei halb nackte Kerle mit auf den Rücken gemalten Schwingen auf einer Klippe sind drei halb nackte Kerle zuviel. Außerdem bist du ziemlich blutverschmiert, Sam. Gleich klettern hier die ersten Menschen mit ihren Rucksäcken durch die Gegend. Die werden sich vielleicht wundern.«
»Du willst jetzt schon wieder freiwillig in die Sphäre wechseln?«
Ranuken verzog das Gesicht. »Ist wohl besser. Sonst kommt Mila noch mal zurück und verpasst mir einen Tritt, weil ich das Fahrrad ihrer Mama zu Schrott gefahren habe.«
»Du hast was?« »Na ja, sie wollte nach dem Wechseln schleunigst hierher, und Fliegen ging nicht. Selbst nachts hängt in diesem Park bei meiner Birke irgendwer rum, Typen mit Bierflaschen und so. Also habe ich sie auf die Querstange vom Rad gesetzt und kräftig in die Pedale getreten. Das hat auch ganz gut geklappt, nur den Weg die Klippe hoch dann nicht mehr. Vielleicht hätte ich das Tempo einen Tick drosseln sollen, wie sie gesagt hat.«
Diese halsbrecherische Fahrt stellte ich mir lieber nicht vor, sonst kam ich noch auf die Idee, Ranuken eine Abreibung zu verpassen. »Ich denke, wir machen uns jetzt aus dem Staub. Ich nehme euch beide mit.«
Asami, der sich die ganze Zeit über im Hintergrund gehalten hatte, sah mich zweifelnd an, wie ich aus meiner Jeans stieg und sie mir um den Unterarm wickelte. Sonst war ja nichts anderes mehr zum Abdecken da, bis auf Asamis Haarschopf, und das brauchte ich heute definitiv nicht noch einmal.
»Bist du dir sicher, dass du das mit uns beiden auf einmal hinbekommst, Samuel?«
Obwohl ich unsäglich erschöpft war und den Geruch von Blut und Schweiß an mir nicht länger ertragen konnte, nahm ich mir einen Moment, um seinen Blick zu erwidern. »Ich denke schon. Aber wenn du Zweifel hegst, kannst du auch gern hierbleiben und ausprobieren, für welche Pforte deine schwarze Augenfarbe steht. Nein, keine Lust? Gut, dann wollen wir mal.«
34
Liebesstricke
Mila
Unaufhaltsam wurden die Schatten in unserem Garten länger, suchten sich ihren Weg zwischen den Bäumen und Sträuchern, breiteten sich seidig weich aus und verbannten die Wärme des Tages. Obwohl der September vor der Tür stand, hatte der Sommer bislang keine Anzeichen von Schwäche erkennen lassen. Das änderte jedoch nichts daran, dass die Auszeit vom Alltag bald vorbei sein würde. Für mich ging die Schule in zwei Tagen wieder los, während Rufus sich gerade mit dem Gedanken an ein soziales Jahr anfreundete. Zumindest hatte unser Vater am Vormittag diesen Vorschlag gemacht, nachdem Rufus und ich ziemlich gerädert aus den Betten geklettert waren.
»Soziales Jahr klingt erst mal nach dem Ernst des Lebens«, fuhr Daniel weiter fort, nachdem Reza ihm einen aufmunternden Blick zugeworfen hatte. »Wenn man allerdings den richtigen Job findet, ist das bestimmt viel spaßiger, als bloß rumzulungern.«
Das roch nach einer dicken Lüge, aber Rufus war immer noch ziemlich durch den Wind nach den Erlebnissen auf der Steilklippe. Als er nicht sofort abwinkte, redete Daniel eifrig weiter von seiner Idee, während ich mich mit dem Telefon verzog, um Lena unseren geplanten Strandbesuch abzusagen. Nicht nur, weil ich in meinem Kopf erst einmal ein paar Dinge ordnen musste, sondern auch, weil mir der Schädel als Nachwirkung von dem unseligen Sturz auch nach drei Aspirin immer noch dröhnte.
»Diese Kopfschmerzen hast du bestimmt Rufus’ schlechtem Einfluss zu verdanken. Vermutlich hat er dich in die Welt seiner Lieblingsdrinks eingeführt,
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