Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
die Sonne auf. An deiner Stelle würde ich mich aus dem Staub machen, solange du noch kannst. Sonst wirst du gebraten. Und vor allem: Finger weg von Mila, sonst bade ich dich in Weihwasser! »
Das wurde ja immer besser. »Jetzt halt endlich den Rand, Rufus, und schalt zur Abwechselung mal dein Gehirn ein. Ich bin kein Dämon, sondern … na, du hast meine Schwingen doch gesehen!«
Rufus sah nicht im Geringsten so aus, als hätte ich ihn mit diesem Ausbruch überzeugt, aber wenigstens war er stehen geblieben und lief nun nicht länger Gefahr, sich mit seiner Stolperei das Genick zu brechen. Während er mich anstierte, schien in seinem Inneren etwas einzurasten
»Diese Flügel … du hast sie ausgebreitet, als du damals von der Klippe gesprungen bist. Ich habe es gesehen, richtig?«
Obwohl ich es gern geleugnet hätte, nickte ich.
Rufus schlug sich die Hände vors Gesicht und wankte. Einen Moment lang befürchtete ich, er könnte in Tränen ausbrechen, und das hätte er mir bestimmt nie verziehen. Stattdessen zuckte er nur einige Male mit den Schultern, bis er schließlich langsamer atmete. Asami war neben mich getreten und musterte ihn, als wäre er ein interessantes Objekt, etwa ein ekelhafter Käfer. »Wie wäre es mit ein bisschen Respekt?«, fuhr ich ihn an und sogleich zog Asami sich wieder zurück.
Nachdem er sich wieder unter Kontrolle hatte, ließ Rufus die Hände sinken. »Ich will meine Erinnerung zurück.«
Das hatte ich befürchtet. In meinem Kopf breitete sich ein Druck aus, als säße ich in einem luftleeren Raum fest.
»Das geht nicht.« Warum fiel es mir nur so verdammt schwer, diese Wahrheit auszusprechen? Weil ich Rufus als Freund nicht verlieren wollte. Er war ein Egoist und gelegentlich die Pest auf zwei Beinen, aber er war trotzdem jemand, den ich gern an meiner Seite hatte. Zum ersten Mal wurde mir klar, dass Rufus tatsächlich mein Freund war und ich an ihm hing, ihn sogar brauchte. Ich wollte nicht, dass er sich von mir abwendete - nicht nur für das, was ich ihm angetan hatte, sondern auch für das, was ich in Wirklichkeit war.
»Geht das mit der Erinnerung nicht, weil du nicht willst, oder weil es echt nicht möglich ist?«
»Weil es nicht möglich ist. Wenn es irgendwie ginge, würde ich es rückgängig machen. Ich wusste kaum, was ich tat, als ich den Schatten über deine Erinnerung legte, das musst du mir glauben. Ich wollte nur verhindern, dass die Bilder von meinem Sturz dich den Verstand kosten. Ein geflügelter Dämon oder was auch immer, der ins Wasser fällt, und dessen Leichnam nie geborgen wird - wie wärst du damit klargekommen?«
Rufus nickte, sichtlich widerstrebend. »Aber mit der Nummer eben, damit soll ich klarkommen, oder was? Wenn ich das in ein paar Stunden beim Frühstück erzähle, dann sperren sie mich wohl nicht in die Klapse, du Genie. Was für eine Scheiße.« Er klang immer noch verärgert und vor allem fassungslos, aber er wirkte nicht länger wie jemand, der einen gleich endgültig zum Teufel wünscht.
In diesem Moment sah ich Mila und Ranuken, die sich der Steilklippe näherten. Unendliche Erleichterung machte sich in mir breit. Mila war unbeschadet aus der Sphäre zurückgewechselt! Doch zunächst einmal musste ich die Chance ergreifen und versuchen, meinen besten Freund zurückzugewinnen. »Wenigstens steckst du dieses Mal nicht alleine in dem Schlamassel fest«, sagte ich aufmunternd.
Rufus’ Brauen zogen sich fragend zusammen, dann folgte er meinem Blick. Eine atemlose Mila mit aufgeschrammten Knien nahm gerade die letzte Anhöhe, auf dem Fuß gefolgt von Ranuken, dessen Gesicht selbst in der Dunkelheit wie eine reife Tomate leuchtete. Als habe ihr plötzlich jemand die Energie abgedreht, blieb Mila stehen, offensichtlich unschlüssig, wem von uns beiden sie sich zuwenden sollte: ihrem verstört aussehenden Bruder oder ihrem Freund, dem sie das ganze Elend zu verdanken hatte.
Ich nahm ihr die Entscheidung ab: »Mila, Rufus braucht jetzt dringend eine Erklärung, besonders darüber, dass wir keine Dämonen sind. Auch wenn Ranuken aussieht, als wäre er gerade der Höllenglut entstiegen.« Die japsende Schattenschwinge zeigte mir den Mittelfinger, was ich mal eben so übersah. »Ich denke, du bist im Erklären geschickter als ich. Am besten, du bringst ihn nach Hause und sagst ihm, was du alles weißt.«
Mila nickte, rührte sich aber nicht, sondern sah mich prüfend an, als mache sie sich Sorgen, wie es mir eigentlich ging. Mehr brauchte es
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