Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
dagegen unternahm, denn all seine Kumpels machten sich schon über seine »Klette« lustig.
Mein Vater hatte Rufus den Thaiboxen-Kurs zum sechzehnten Geburtstag geschenkt, in der Hoffnung, dass er sich dort ordentlich auspowern und dadurch insgesamt verträglicher würde. Nach einigem Gemaule war er hingegangen und vollauf begeistert - und unsere gesamte Familie von den Socken, denn mein Bruder spielte zwar gern Basketball oder ging surfen, aber nur, wenn ihm der Sinn danach stand. Zweimal die Woche freiwillig zu einem festen Termin aufzuschlagen und auf einen strengen Trainer zu hören, war so gar nicht Rufus. Vor allem, weil er zum Training den Bus nehmen musste und Busfahren eigentlich komplett unter seiner Würde war. Er lebte auf den Tag hin, an dem er endlich seinen Führerschein in der Tasche hatte.
»Also, bist du nun mein Schwesterherz und rufst Julia an?«, hakte Rufus nach.
»Keine Chance«, erwiderte ich und nahm den Kohlestift erneut zur Hand. »Mit solchen blöden Spielchen will ich nichts zu tun haben. Wenn du Julia nicht um dich herum haben willst, sag ihr das gefälligst persönlich. Dann sieht sie vielleicht endlich mal klar und sucht sich einen Jungen, der sich auch für sie interessiert.«
Es war Rufus deutlich anzusehen, dass er mit sich kämpfte, wie viel er mir erzählen konnte. Aus welchem Grund auch immer, er wollte Julia unbedingt vom Hals haben, wenn er heute zum Muay Thai ging.
»Es ist so«, quälte Rufus mit deutlichem Widerwillen hervor. »Du kennst doch Sam Bristol. Der ist auch beim Boxen und … na ja, wir quatschen da ab und zu. Heute holte er mich sogar ab und nach dem Training stehen wir sicherlich noch zusammen rum, bis der Bus kommt. Wenn Julia dann wieder mit diesem verklärten Blick an mir hängt, ist das reichlich uncool.«
Unwillkürlich klappte mein Kiefer nach unten. Es war Rufus tatsächlich gelungen, Sams Aufmerksamkeit zu erregen! Zuvor hatten sie zwar denselben Jahrgang besucht, aber irgendwie war mein Bruder nie an Sam rangekommen. Die meisten Jungen auf unserer Schule mochten Sam. Nicht etwa wegen seiner ungewöhnlichen Ausstrahlung, sondern, weil er ein guter Kumpel war. Er aber wusste ziemlich genau, wen er mochte und wen er besser auf Distanz hielt. Also musste sich selbst Rufus bei ihm anstrengen.
»Samuel Bristol ist in deinem Muay-Thai-Kurs und er holt dich gleich ab? Wie hast du das denn hinbekommen?«
Rufus grinste selbstgefällig. »Es ist ja kein Geheimnis, dass Sam eine Schwäche fürs Meer hat. Also habe ich ihm ganz nebenbei ein paar Geschichten über unsere Segeltörns erzählt. So Sachen rund ums Segeln und Basteln an der Wilden Vaart , Jungskram eben.«
Ja, dass konnte ich mir gut vorstellen, dass Rufus da einiges zu erzählen hatte. Unser Vater hatte das alte Segelschiff, eine Ewer, kurz nach unserem Umzug nach St. Martin gekauft und seitdem nicht mehr aufgehört, gemeinsam mit Rufus daran herumzubasteln. Das hatte die Wilde Vaart auch dringend nötig gehabt, denn sie war nicht mehr als ein morsches Stück Holz mit zwei Masten gewesen, das sich erstaunlicherweise über Wasser halten konnte. Mittlerweile war sie ein richtiges Schmuckstück, mit einer hölzernen Reling und moosgrünem Rumpf. Aber vor allem machte sie ordentlich Fahrt und damit ihrem Namen alle Ehre. Was manche Familienmitglieder gut fanden, andere dafür weniger … ich zum Beispiel.
»Wenn man Sam Storys erzählt, in denen von Geschwindigkeit und dem Meer die Rede ist, hat man seine volle Aufmerksamkeit.«
Ich verzog das Gesicht, als mir klar wurde, dass Sam in dieser Hinsicht vollkommen anders tickte als ich. Wasser in Kombination mit Tempo war so gar nicht meins. Rufus nahm auf solche Feinheiten allerdings wenig Rücksicht. »Jedenfalls kam das alles wohl ziemlich gut an bei ihm, seitdem quatschen wir immer miteinander. Und wenn er mich heute abholt, will ich einfach nicht, dass Julia mir alles versaut.«
Mir blieb nichts anderes übrig, als zu nicken. Das war eine fiese Nummer, keine Frage. Aber hier ging es um Sam. Als es später an unserer Haustür klingelte, blieb ich allerdings vor lauter schlechtem Gewissen in unserer Wohnküche sitzen. Nicht nur, weil ich Julia am Telefon eine Lügengeschichte erzählt hatte, sondern auch, weil ich mir plötzlich wie ihre Zwillingsschwester vorkam. Einen Jungen aus der Ferne anzuhimmeln, war die eine Sache. Sich seinetwegen zu erniedrigen, eine ganz andere. Ich wollte keine erduldete »Klette« sein, indem ich mir Rufus’
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