Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
ob beim Friseur vielleicht etwas schiefgegangen war.
»Also, machst du mit bei dieser Splat-Gun-Sache?«, hakte ich nach, weil Rufus’ Aufmerksamkeit zunehmend einer sich auf einer Motorhaube windenden Sängerin galt. »Willst du andere Kerle mit Farbe bespritzen und dabei ›peng, peng‹ machen?«
»Seh ich etwa so aus? Außerdem muss Sam an diesem Nachmittag auf der Tankstelle einspringen, da ist es doch meine Pflicht, ihn zu unterhalten. Sonst hat ja keiner Zeit: Luca muss mit zu seinen Großeltern, um den Garten klarzumachen, und Chris will eben Guerilla spielen. Ist doch Mist, wenn Sam an einem Samstag allein rumhängen muss, obwohl bloß alle Jubeljahre mal einer vorbeikommt, der Benzin will. Na ja, ist doch auch echt Kinderkacke, im Wald Dosenbier zu trinken und mit Farbpatronen rumzuballern.«
Rufus kaute auf seiner Unterlippe herum und ich brummte zustimmend, wohl wissend, dass er gerade Sams Meinung als seine eigene ausgegeben hatte. Der hatte also von Anfang an nicht mitmachen wollen. Vermutlich hatte mein Bruder Chris schon begeistert zugesagt, bevor er Sams Meinung zu diesem Thema gehört hatte. Wie gut, dass Sam arbeiten musste und Rufus dadurch eine Ausrede verschaffte, mit der er seinen plötzlichen Sinneswandel erklären konnte, ohne sein Gesicht vor Chris zu verlieren.
»Ich wollte Dad mal fragen, ob er Sam nicht sein Mountainbike ausleiht, damit wir nach seiner Schicht noch an der Küste entlangfahren können. Wenn die anderen dabei sind, geht so was immer nicht. Sam meint, hinter der Promenade gibt es einen Weg, der an der Steilküste entlangführt. Von da oben hätte man eine irre Aussicht. Man könnte ein Lagerfeuer machen und dann einfach dasitzen und aufs Meer schauen. Die Idee gefällt mir, ist doch viel besser als Farbe in den Haaren.«
Was Rufus erzählte, überraschte mich nicht weiter. Sam liebte das Meer, außerdem war er kaum der Typ, der Interesse an Jungenspielen hatte, die sich um Alkohol und Wut drehten. So gut kannte ich ihn mittlerweile, ohne jemals ein Wort mit ihm gewechselt zu haben, das über »Hallo Sam, Rufus kommt gleich« hinausging.
Das änderte jedoch nichts daran, dass es mich allmählich in den Wahnsinn trieb, dass er mich nicht beachtete. Zumindest nicht auf die Art, wie ich es mittlerweile wollte. Seit mein Bruder sich mit ihm angefreundet hatte, hatte sich mein Bild von Sam verändert. Bislang hatte es einen Stern gezeigt, so hell strahlend, dass nichts anderes mehr zu erkennen war. Nun färbte sich das Bild pinkrot ein, die Farbe der verliebten Mädchen. Ich war mir nicht sicher, ob mir das gefiel.
Dieser Sam-Zauber, dem ich mit elf Jahren so vollständig erlegen war, war rein und voller kindlicher Begeisterung fürs Wunderbare gewesen. Nicht, dass er mit einem Schlag verschwunden war. So war es nicht. Ich ertappte mich nur plötzlich dabei, wie ich an Sams weich geschwungene Oberlippe dachte und an die Art, wie er beim Lachen immer leicht den Kopf senkte. All das löste ein regelrechtes Feuerwerk in mir aus, und dieses erregende Gefühl, das nichts anderes als Verliebtheit war, traf mich ziemlich unvorbereitet. Es öffnete mir eine völlig neue Welt, die ich mit Neugier, aber auch mit Angst sah. Ich versuchte zuerst, dieses Prickeln möglichst umgehend wieder loszuwerden - ein ziemlich nutzloser Versuch. Dann, es zu ignorieren, denn ich wollte unbedingt meinen strahlenden Sam zurückhaben. Irgendwann gestand ich mir dann ein, dass Sam nicht minder strahlte, wenn ich mir vorstellte, wie sich seine Lippen auf meinen anfühlen mochten. Außerdem war es schön, von ihm zu träumen. So war er mir nah und fern zugleich.
Dieser Sicherheitsabstand, der dafür sorgte, dass ich trotz meiner doppelt gelagerten Faszination für Samuel Bristol ein recht ausgeglichenes Leben führte, löste sich jedoch einige Monate vor meinem sechzehnten Geburtstag schlagartig in Luft auf. Und das war Sams Schuld.
2
Vermessene Nähe
Wie jeden Donnerstag, seit ich die zehnte Klasse besuchte, saß ich nach Schulschluss mit Bjarne aus der Abschlussklasse im Gemeinschaftsraum und gab mir große Mühe zu verstehen, wovon er sprach. Nicht, dass es etwas brachte, denn mathematisches Denken ging mir völlig ab. In dem Moment, in dem Bjarne mir eine Sache erklärte, schien mir alles ganz logisch. Doch kaum, dass er zu reden aufhörte, rutschten mir seine Erläuterungen aus dem Gehirn und zurück blieb gähnende Leere. Das machte den guten Bjarne fast genau so wahnsinnig wie mich, denn so
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