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Schattenspieler (German Edition)

Schattenspieler (German Edition)

Titel: Schattenspieler (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr. Michael Römling
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Kreide.
    »Dürfte ich mal …«
    Der Mann blickte ihn lethargisch aus wässrigen blauen
Augen an. Er war unrasiert, hatte tiefe Furchen im Gesicht
und eine hohe, bleiche Stirn. Seine Haare waren stumpf und
wirr. Und doch: So alt, wie er auf den ersten Blick aussah, war
er gar nicht. Ohne ein Wort reichte er Leo die Kreide.
    Leo rannte zurück zu Wilhelms Haustür. Einen Augenblick
lang überlegte er, was er schreiben sollte. Er musste ja die
Adresse von Friedrich angeben. Was Wilhelm wohl denken
würde, wenn er diese Anschrift sah?
    Schließlich schrieb er: »Wilhelm, wo bist du? Habe Wahn
und Wirklichkeit überlebt. Bitte bei Friedrich und Marlene
Häck melden, Ebereschenallee 9. Leo.« Er trat einen Schritt
zurück und begutachtete sein Werk. Die Schrift leuchtete
an der rußgeschwärzten Wand. Wahn und Wirklichkeit – so
wusste Wilhelm wenigstens, dass die Nachricht tatsächlich
von ihm war.
    Als er zurücklief, war der Mann verschwunden.
    Sie wanderten weiter durch die Ruinen der Kurfürstenstraße.
In einem Schutthaufen steckten drei Kreuze aus Holzlatten,
die von Draht zusammengehalten wurden. Davor hatte
jemand einen Strauß Flieder abgelegt.
    Die Türme der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ragten
aus dem Trümmerberg an der Einmündung der Budapester
Straße wie die Finger eines verschütteten Riesen. Am Rand
des Platzes waren Straßenschilder mit russischer Beschriftung
aufgestellt. Hier waren wieder mehr Menschen unterwegs als
in der Kurfürstenstraße und selbst ein paar Autos schlichen
dahin.
    Vor dem zerschossenen Haupteingang zum Zoologischen
Garten war eine Sperre errichtet. In der Mitte der Straße stand
ein Panzer. Eine Gruppe von Soldaten stand breitbeinig daneben
und beobachtete die Passanten mit unfreundlichen Blicken.
Leo wurde unwohl, als er aus den Augenwinkeln sah,
wie auf der anderen Straßenseite zwei Männer beim Anblick
der Sperre kehrtmachten und, um Unauffälligkeit bemüht,
in die andere Richtung davongingen. Vielleicht war es besser,
sich auch aus dem Staub zu machen. Mit diesen Russen war
scheinbar nicht gut Kirschen essen. Als er Friedrich gerade
warnen wollte, hatte einer der Soldaten sie entdeckt und kam
mit schnellen Schritten auf sie zu.
    »Stoj!«, rief er und hob sein Gewehr. Sie blieben stehen.
    »Verdammt«, murmelte Friedrich.
    Der Russe hatte ein breites, wohlgenährtes Gesicht, aber
seine Augen funkelten feindselig. Ehe Leo sich versah, hatte er
ihn am Handgelenk gepackt. Als Friedrich protestieren wollte,
hielt der Soldat ihm die Mündung seines Gewehrs unter die
Nase. Leo sah, dass Friedrich die Zähne zusammenbiss. Mit
der freien Hand riss der Russe jetzt Leos Jackenärmel hoch,
zuerst den rechten, dann den linken. Der Anblick der nackten
Handgelenke schien ihm zu missfallen.
    »Urr?«
    Leo war so verdattert, dass er zuerst nicht verstand.
    »Er will deine Uhr«, sagte Friedrich leise.
    »Maltschi!«, schnauzte der Soldat ihn an. Friedrich blickte
noch finsterer drein als zuvor und zog Marlene zu sich heran.
    Als Nächstes wurden Leos Taschen durchsucht, aber auch
dort fand sich nichts, was den Russen zufriedenstellte. Auf Sirinows
Passierschein warf er einen kurzen Blick, dann stopfte
er ihn wortlos zurück. Dabei sah Leo, dass der Soldat auf dem
linken Handgelenk bereits vier Armbanduhren trug. Seine
Kameraden schauten grinsend bei der Durchsuchung zu.
    Dann war Friedrich an der Reihe. Eine Tasche nach der
anderen wurde auf links gezerrt. Der Soldat machte ein fast
geschäftsmäßiges Gesicht. Nicht ein einziges Mal blickte er
ihnen in die Augen.
    »Das ist ja die reinste Wegelagerei«, presste Friedrich hervor.
Leo hoffte inständig, dass der Russe Marlene in Ruhe lassen
würde. Wenn Friedrich versuchte, seine Schwester zu verteidigen,
konnte es gefährlich werden. Doch Marlene, die überhaupt
keine Angst zu haben schien, blieb verschont.
    »Nix Urr«, stellte der Russe fest. »Nix Urr – du Arbeit.«
    Leo versuchte es noch einmal mit dem Passierschein. Er
fischte das inzwischen stark zerknitterte Papier aus der Tasche
und hielt es dem Soldaten hin. Der aber war kein bisschen
beeindruckt.
    »Du Papier, ich Gewehr. Du Arbeit, ich zeige. Dawai!«
    Er wies mit dem Gewehrlauf zum Eingang des Zoos. Das
von zwei zerschossenen Steinelefanten flankierte Portal war
bis auf ein paar Pfeiler völlig zerstört. Von den Gebäuden daneben
waren nur noch ausgebrannte Ruinen übrig. Die Kassenhäuschen
waren unter einem Schuttberg gerade noch zu
erkennen.
    »Na wunderbar«,

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