Schattenspieler (German Edition)
Besucher links liegen
gelassen. Sein Gästezimmer war nur oberflächlich durchsucht
worden, und selbst das Bettzeug lag noch genauso da, wie er es
am Tag seiner Flucht zurückgelassen hatte. Leo betrachtete die
karierte Decke eine Weile nachdenklich. Ein merkwürdiges
Bild kam ihm in den Kopf: ein Schmetterling, der an den Ort
seiner Verpuppung zurückkehrt, wo nur noch der verlassene
Kokon liegt.
Friedrichs Stimme aus dem Arbeitszimmer riss ihn aus seinen
Gedanken.
»Komm mal schnell her, Leo! Das gibt's doch nicht!«
Leo rannte ins Arbeitszimmer, wo Friedrich auf dem Boden
in einem Berg von Papieren hockte, die die Plünderer offenbar
vom Tisch gefegt hatten. Er erkannte einige der Mappen
wieder, die die mysteriösen Gestapo-Papiere enthalten hatten.
Wieder spürte er, wie etwas in seiner Brust sich zusammenschnürte:
die Angst vor den monströsen Dingen, die da noch
alle schlummern mochten, und die Frage, was Wilhelm damit
zu tun gehabt hatte.
Marlene stand vor dem Regal und ließ ihre Finger über
die Buchrücken gleiten, als könnte sie die eingeprägten Titel
lesen. Vielleicht konnte sie das wirklich.
Die Schreibtischschubladen waren herausgerissen und ihr
Inhalt – Stifte, eine Leselupe und anderer Kleinkram – lag
zwischen den Papieren auf dem Boden verstreut.
Friedrich hielt Leo mit zitternden Fingern ein Blatt entgegen.
Leo nahm das Papier und warf einen Blick darauf.
Schreibmaschinenschrift. Eine Namensliste mit Adressen,
alphabetisch sortiert. Die meisten Namen waren mit Diensträngen
versehen. Bei einigen fehlten die Adressen und drei
der Anschriften waren durchgestrichen und in Wilhelms gestochener
Schrift über der Zeile verbessert.
Und dann sah er es: Häck, Gustav, Ebereschenallee 9, Berlin.
Dahinter hatte Wilhelm ein Fragezeichen eingetragen.
Friedrich blickte ihn an, als erwartete er eine Erklärung.
Leo schaute wieder auf die Liste. »ERR members known by
name«, las er. Er starrte auf die Adresse. Das war die Villa.
Gustav Häck war Friedrichs und Marlenes Vater.
Marlene war vom Bücherregal zurückgetreten. »Was habt
ihr gefunden?«, fragte sie.
»Eine Liste«, sagte Friedrich wie mechanisch. »Mit dem
Namen von unserem Vater und unserer Adresse drauf.«
Marlene legte den Kopf etwas zurück, als läge die Erklärung
in der Luft.
»ERR steht für Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg, oder?«,
fragte Leo.
»Muss wohl so sein«, sagte Friedrich nachdenklich. »Ich hab
dir ja erzählt, was meine Mutter darüber wusste. Sie haben
Bibliotheken und Archive geplündert und dann auch Museen
und Kunstsammlungen. Viel mehr konnte ich nicht in
Erfahrung bringen. Aber die Frage ist ja: Was macht die Liste
in dieser Wohnung?«
Leo ließ seinen Blick nachdenklich über das Chaos auf dem
Boden schweifen. »War sie in keinem Ordner?«
»Nein. Sie lag lose dazwischen. Der Rest ist ganz anderes
Zeug. Irgendwelche Berichte.«
Leo sah wieder auf die Liste und den englischen Titel. Langsam
dämmerte ihm etwas. Wilhelms häufige Abwesenheit.
Seine Verabredungen mit Leuten, über die er nicht redete. Die
ganze Geheimniskrämerei. Wilhelm war Kunsthistoriker und
Gegner der Nazis gewesen. Und diese Liste enthielt Namen
von Leuten, die für die Nazis Kunst geraubt hatten.
»Weißt du, was ich glaube? Wilhelm hat Informationen gesammelt.
Für die Alliierten. Daher auch die englische Überschrift.
Und die Adressen. Damit man diese Leute nach dem
Krieg zur Rechenschaft ziehen kann.«
»Du meinst, er war so eine Art Spion?«
Leo nickte. »Daher auch diese ganzen Berichte.«
Friedrich griff sich einen der Ordner aus dem Haufen. Auf
der Deckpappe war ein schmutziger Stiefelabdruck zu sehen.
»Ziemlich schlimme Sachen stehen da drin«, sagte er leise.
»Ich weiß«, sagte Leo noch leiser.
»Ganz schön gefährlich, das alles so in der Wohnung liegen
zu lassen.«
»Wilhelm hatte keine Angst vor denen.«
»Den würde ich gern mal kennenlernen.«
Leo lächelte traurig. Die Freundschaft mit Wilhelm war
vielleicht wirklich das Einzige, worum man ihn beneiden
konnte. Wilhelm, der ihm das Leben gerettet hatte und den er
möglicherweise nie wiedersehen würde.
Leo spürte, dass Marlene von hinten an ihn herantrat. Ihre
schmale Hand legte sich auf seine Schulter und tastete nach
seiner Wange.
»Na komm, Leo. Dein Wilhelm ist doch keiner, der so mir
nichts, dir nichts verschüttgeht.«
»Aber er wäre doch nicht einfach abgehauen, solange ich da
oben bewusstlos liege!«
»Vielleicht war jemand auf der
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