Der kalte Himmel - Roman
Der kalte Himmel
Erst als sie ihre Hände am Küchentuch abstreifte, fiel ihr auf, wie still es war. Nur das Ticken der Wanduhr war zu hören. Das Wachstuch auf dem Esstisch der Familie war noch feucht, gerade erst hatte sie mit einem nassen Lappen die letzten Krümel aufgewischt, die Kaffeetassen gespült und die Holzbrettchen, die die Kinder für ihre Brote nahmen, zum Trocknen in das Hängeregal geschoben.
Nicht, dass etwas anders gewesen wäre an diesem Morgen, alles war wie immer. Nur der Himmel lag heute besonders schwer über den Feldern, grau und bleiern, wie seit Tagen schon. Auch das war nicht ungewöhnlich für Anfang November. Die ersten Herbststürme hatten das Blattwerk von den Hopfenstangen gefegt, der von den Regengüssen der letzten Wochen aufgeweichte Boden war durch den frühen Frost hart und rissig geworden. Man musste aufpassen, wenn man nicht umknicken wollte.
Marie dachte daran, wie sie Felix an diesem Morgen seine knöchelhohen Lederstiefel besonders fest zugebunden hatte. Wie immer war dem Sechsjährigen das Anziehen schwergefallen. Es war ihm sichtlich unangenehm, wenn sie an ihm herumzupfte. Felix wand sich auf der kleinen Holzbank im Flur des Bauernhauses; er wehrte sich, bis sie schließlich energischer wurde.
» Warte « , sagte sie erst leise, dann etwas lauter, » warte, so warte halt. «
Der Knoten musste doppelt gebunden werden, denn wenn Felix einmal draußen war, vergaß er oft Raum und Zeit. Er achtete nicht auf die Wege, und nur die Schläge der Kirchturmuhr vom nahen Dorf, die bei günstigem Wind auch auf den entferntesten Feldern zu hören waren, erinnerten ihn mitunter daran, dass es Zeit war, nach Hause zu gehen. Doch verlassen konnte man sich darauf nicht. Oft schlug Marie das Herz bis zum Hals, weil Felix auch nach Einbruch der Dunkelheit noch nicht zu Hause war. Dabei wusste sie genau, wie leicht er sich von seinen Beobachtungen fesseln ließ, wie vollständig er alles vergaß, was andere Menschen von ihm erwarteten, sobald ein Holzstöckchen am Wegrand, ein totes Tier auf der Wiese oder das Spiel des Windes in den Bäumen seine Aufmerksamkeit gewann.
Die Stille, die Marie in ihrem leeren Haus fühlte, war so überwältigend, dass ihr ganz schwindlig wurde. Es war die Art von Stille, in der lange zurückgedrängte Gedanken plötzlich Gestalt annehmen. Wie die Wolken am Himmel ballten sich diese Gedanken in ihr zusammen, unruhig trieben sie in ihr voran, und doch hätte sie sie nicht in Worte fassen können.
Später würde ihr Paul erzählen, dass in diesem Moment der Stille Felix wie so oft die Hopfenfelder querfeldein gerannt war. Auch das war nicht ungewöhnlich, denn wann immer sie an ihren Sohn dachte, hatte sie das Bild des laufenden Felix vor Augen. Mehr noch, sie spürte den seltsam wiegenden Rhythmus seiner Bewegung, fühlte, wie er seine Arme dabei immer wieder schwingen ließ und auf den Ballen seiner Füße im Laufen hoch- und niederwippte. Nie zuvor hatte sie diese Bewegung bei einem anderen gesehen, eine Bewegung, die eigentlich an keinen Menschen, sondern eher an einen Vogel erinnerte.
Vogelartig, ja, das war es, durchzuckte es sie, ein seltsamer Vogel, ja, das war er, ihr Sohn, und noch während sie über diesen Ausdruck nachdachte, strömte ein warmes Gefühl aus der Mitte ihres Körpers in ihr auf, ein Gefühl, das sie schon in den ersten Wochen nach seiner Geburt verspürt hatte, wenn sie dieses Kind betrachtete, das so anders schien, ohne dass sie genau hätte sagen können, was denn anders an ihm war. Nie hatte Felix wie seine älteren Geschwister ihren Blick gesucht, wenn er an ihrer Brust lag, immer ging sein Blick nach innen, immer war er ganz auf sich und seine Bedürfnisse ausgerichtet. Auch als Kleinkind und später als Junge schien für Felix nur das, was seine Neugierde erregte, der alleinige Kompass seines Handelns zu sein. Was die Menschen um ihn herum taten oder sagten, kümmerte ihn kaum, oft schien es, als würde er durch sie hindurchschauen.
Seine beiden älteren Geschwister hatten bald das Interesse an ihm verloren, Felix war einfach kein Kind, das man an sich drücken und herumwirbeln konnte, und auch die üblichen Kinderspiele, die Lena und Max erst eifrig und dann zunehmend lustlos an ihm exerzierten, funktionierten einfach nicht. » Ochs am Tor, jetzt mach schon! (…) Anschlagen musst du halt, schau, wir zeigens dir! (…) So schwer ist das doch nicht. (…) Schau halt zu! « Doch Felix fing an zu weinen, bis sie ihn
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