Schattentraeumer - Roman
sie darüber, wie stark sie als Mädchen gewesen sein musste. Loukis und sie hatten
nur etwa zwanzig Minuten gebraucht, um zu St. Hilarion hinaufzuklettern. Doch nun war sie alt und allein, und es vergingen
neunzig Minuten, bis sie die ebene Stelle unter dem Pistazienbaum erreicht hatte, der damals Zeuge ihres ersten Aktes erwachsener
Liebe geworden war. Praxi lehnte sich auf ihren Wanderstock und kramte in ihrer Tasche nach dem Wasser, das sie mitgenommen
hatte. Die Luft um sie herum war ruhig, und sie sehnte sich nach der Brise, die sie sich vorgestellt hatte.
Sie setzte sich auf die Erde, auf der sie trotz Drehen und Wenden keinen gemütlichen Platz zwischen den harten Steinen fand.
Das Gras fühlte sich vertrocknet an, und der alte Baum sah traurig und niedergeschlagen aus. Ohne es zu wollen, begann Praxi
zu weinen, da das, was sie vorfand, nicht das war, wonach sie gesucht hatte. Es war anders, als sie es in Erinnerung hatte.
Alles schien so hart, so gleichgültig, so grausam – das Gegenteil dessen, was es einst gewesen war.
Während Praxi noch weinte, bemerkte sie eine scheue Bewegung, und als sie den Kopf hob, sah sie ein Kaninchen, das in ihre
Richtung blickte.
»Vor nicht allzu langer Zeit hätte Loukis dich getötet und zum Abendessen verspeist«, erklärte Praxi dem Tier. Ihre Worte
scheuchten das Kaninchen auf, und sie hörte sein Lachen, das von einer sanften Brise zu ihr getragen wurde. Wie ein vergessener
Kuss kitzelte die Erinnerung an ihn ihre Wangen undkühlte ihre Stirn. Sofort schien alles ein wenig leichter, weicher und versöhnlicher. Praxi hob ihre Arme zur Begrüßung, und
über ihr seufzten die trockenen Blätter des Pistazienbaumes angesichts des verlorenen Glücks. Praxi wartete darauf, dass Loukis
sich im Wind niederließ.
Wir vergessen nicht.
»Ich habe dich mein ganzes Leben lang geliebt«, flüsterte Praxi. »Ich werde dich bis zum Tag meines Todes und auch danach
noch lieben, und ich bin hierhergekommen, um dich zu finden und dir das zu sagen, weil ich solche Angst habe, dass es keine
andere Möglichkeit dafür geben wird. Ich gehe davon aus, dass wir zusammen sein werden, wenn ich sterbe, Loukis, aber was,
wenn ich falsch liege, wie schon so viele Male in der Vergangenheit? Was, wenn es außer dem Hier und Jetzt nichts gibt und
uns auf der anderen Seite kein unendliches Leben erwartet? So viel Zeit wurde vergeudet und so viel Schönheit zerstört. Ich
kann kaum glauben, dass wir mehr Zeit unseres Lebens getrennt voneinander verbracht haben als zusammen, und ich bereue jede
Minute unserer Dummheit. Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, würde ich unser Kind mit erhobenem Kopf austragen,
anstatt die Wahrheit aus Scham zu verbergen. Ich würde auf deine Rückkehr warten und alle Beleidigungen ertragen, die mir
die Welt entgegenschleudern würde, da sie mir mit dir an meiner Seite nichts ausmachen würden. Ich schäme mich so sehr für
meine Schwäche, die dich fortgejagt und mich dazu gebracht hat, dich zu verleugnen. O Gott, Loukis. Ich habe dich verleugnet!
Ausgerechnet dich! Den einzigen Mann, den ich jemals geliebt habe und bei dem ich immer sein wollte. In meinem Herzen spüre
ich, dass ich nicht nur für deine Einsamkeit in dieser Welt, sondern auch für deinen Tod verantwortlich bin. Wenn wir unser
Leben gemeinsam verbracht hätten, hätten wir unser Haus gemeinsam verlassen und wären jetzt nicht hier, einer von uns voller
Reue, der andere ein Geist. Erinnerst du dich an den Nachmittag, als wir hier unsere Flucht planten, weil Yiannis uns nach
Griechenland bringenwollte? Ich erinnere mich. Ich erinnere mich gut und denke beinahe täglich daran, weil du mir versprachst, du würdest mich
niemals verlassen, dass wir zusammenbleiben würden, bis wir verbrannter Toast wären. So albern es klingt, Loukis, ich glaube,
dass du dein Wort gehalten hast. Auch wenn sie dich umgebracht haben, habe ich dich immer an meiner Seite gespürt. Ich konnte
einen flüchtigen Blick auf dich erhaschen, wenn ich an einem Spiegel vorbeiging, und ich konnte spüren, dass du im Schatten
wartetest. Diese Augenblicke haben mich wirklich sehr getröstet, aber bei Gott, was hätte ich nicht dafür getan, dich nur
noch einmal berühren zu können. Loukis, dieses halb gelebte Leben hat mich in Stücke gerissen, dich so nah zu wissen und doch
so weit entfernt von dir zu sein. Und ich bin müde. Müder, als ich es je für möglich
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