Schattentraeumer - Roman
von der unzähmbaren Göttin gesegnet worden sein sollte,
doch die im Spaß gesagten Worte ihres Mannes verloren nach und nach ihren Zauber, als die Jahre vergingen und Loukis vom Baby
zum Kleinkind heranwuchs, ohne irgendwelche Anstalten zu machen, sich auf seine Füße zu stellen. Noch mit drei Jahren weigerte
sich ihr jüngster Sohn standhaft, etwas anderes zu tun, als zu krabbeln, was Dhespina mit großer Sorge erfüllte. Ihre älteren
Jungs fanden das natürlich höchst amüsant und ermunterten ihren Bruder lautstark, ihnen in die Knöchel zu beißen. Doch außerhalb
ihrer vier Wände sorgte das sonderbare Verhalten ihres Kindes für mitleidige Blicke der Nachbarn, die, nicht ganz ohne Grund,
vermuteten, Dhespina könnte einen weiteren Schwachkopf zur Welt gebracht haben. Doch Marios hatte, bei aller Beeinträchtigung,
mit vierzehn Monaten aufrecht stehen können, und Dhespina wurde das Gefühl nicht los, dass es im Fall ihres Jüngsten weniger
eine Frage des Könnens als vielmehr des Wollens war. Von dem Zeitpunkt an, als seineschwarzen Augen Dinge zu fixieren vermochten, zeigte Loukis wenig Interesse an all dem, wozu ihn seine Familie so dringend
zu bewegen versuchte. Er ignorierte sie einfach vollkommen und jagte stattdessen auf Händen und Knien Apollo, dem Hund, nach.
»Er wird sich aufrichten, wenn er so weit ist«, beruhigte Georgios seine Frau, als diese während des Abendessens wieder einmal
auf das Thema kam.
»Wenn es nur das wäre, Georgios! Aber Loukis versucht genauso wenig zu sprechen. Das ist doch nicht normal für einen Jungen
in seinem Alter. Ganz bestimmt nicht.«
»Du machst dir zu viele Sorgen, Dhespo. Unsere Söhne sind alle gesund und kräftig, und in den Adern von Mikros Lykos fließt
das gleiche Blut. Eines Tages wird er aufstehen, so, wie es unsere anderen auch gemacht haben, und dann wird er ums Haus rennen,
zwischen deinen geliebten Töpfen und Pfannen herumklettern, dein Geschirr kaputtschlagen und die Sachen zerreißen, die du
ihm genäht hast. Und dann wirst du dir wünschen, er würde wieder auf dem Boden herumkrabbeln und mit dem Hund tollen!«
»Er heißt Loukis, Georgios! Er ist kein kleiner Wolf, er ist ein kleiner Junge, und je länger du ihn Kleiner Wolf nennst,
desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er sich zu einem großen entwickelt. Also hör endlich auf damit. Ich flehe dich
an!«
Georgios seufzte wie ein Ehemann, der sich geschlagen gibt. Seine Frau war eine getriebene Seele: einerseits stark, andererseits
innerlich zerrissen, und momentan war sie am Rande des Nervenzusammenbruchs. Er stand auf, um in seine Werkstatt zurückzugehen,
die er neben dem von Oleander umwachsenen Gartenhaus errichtet hatte, in dem seine Frau ihre Mixturen herstellte. Er wusste,
dass er Rücksicht auf Dhespinas momentane Empfindlichkeit hätte nehmen sollen, doch er konnte nicht anders: Beim Hinausgehen
beugte er sich kurz vor der Tür zu Loukis hinunter, der gerade auf Apollos warmem Bauch ruhte, und knurrte ihn an. Das Kind
blickte auf und lächelte seinenVater an. Für Dhespina sah dies eindeutig wie eine verschwörerische Geste aus. Sie schüttelte den Kopf und sandte ein Stoßgebet
zur Jungfrau Maria.
Als Apollo bemerkte, dass Georgios das Haus verließ, stand er auf, streckte sich einmal ausgiebig und folgte seinem Herrchen
nach draußen. Seines Kissens beraubt, erhob sich nun auch Loukis träge auf alle viere und trottete hinter den beiden her.
»Heilige Mutter Gottes«, stöhnte Dhespina. Ihr Sohn war soeben nicht nur aus dem Haus gekrabbelt, er hatte seine Händchen
eindeutig wie Pfoten aufgesetzt. Ihr eigenes Fleisch und Blut ahmte den Familienhund nach!
»Als nächstes wird er an Bäume pinkeln«, murmelte sie.
So ungern sie es sich eingestand – Dhespina musste zugeben, dass die Schuld an all dem allein bei ihr lag. Schließlich war
sie es gewesen, die darauf bestanden hatte, dass Apollo ins Haus geholt wurde, anstatt das Schicksal eines jeden anderen Jagdhunds
auf Zypern zu teilen und an einen Baum gekettet zu bleiben. Ja, sie war es auch gewesen, die sich über ihren Mann hinweggesetzt
und den wunderlichen Marotten ihres Sohnes gegenüber Nachsicht gezeigt hatte – jenes Sohnes, um dessentwillen ihr Herz über
ihre Vernunft siegte. Doch was hätte sie auch tun sollen, als sie Morgen für Morgen beim Aufwachen ihren Sohn schon wartend
an der Haustür vorgefunden hatte? Natürlich, sie hatte ihn auf den
Weitere Kostenlose Bücher