Schattenturm
das zwischen den Unterlagen hervorlugte. »Einer Ihrer Künstler?«
Verlegen griff Nora nach dem Fax, doch Anna hatte es bereits aus dem Stapel gezogen. Jetzt erkannte sie, dass es sich um ein Verbrecherfoto handelte. Erschrocken schlug sie eine Hand vor den Mund.
»Das gehört Frank«, sagte Nora verlegen. »Es muss zwischen meine Unterlagen gerutscht sein.«
Anna erblasste. »Mein Gott. Wer ist das? Warum hat Frank dieses Foto?« Ihre Hand zitterte.
Nora schwieg. Anna schaute wieder auf das Blatt und entdeckte am Rand die fünf Buchstaben »chesi«, die jemand dorthin gekritzelt hatte. »Hat das etwas mit Joe zu tun?«, fragte sie mit zittriger Stimme.
»Da müssen Sie ihn selbst fragen«, sagte Nora. »Tut mir Leid. Es war mein Fehler.«
»Nein, Sie können nichts dafür. Ich muss jetzt gehen, Nora. Ich muss mit Joe sprechen.«
Joe ging unruhig in der Küche auf und ab, als er wartete, dass sein Vater abhob.
»Was soll das?«, fragte Joe, als Giulio sich meldete. »Willst du mir den Sohn wegnehmen?«
»Ich nehme an, du sprichst über das Flugticket«, erwiderte Giulio. »Ich wollte meinem Enkel helfen.«
»Den Wohltäter spielen, was? Shaun braucht deine Hilfe nicht.«
»Der Junge hat viel durchgemacht. Er muss einmal richtig ausspannen.«
»Das hast du nicht zu entscheiden. Was soll das überhaupt? Mischt dich in unser Familienleben ein und versuchst, den Jungen nach New York zu locken! Meinst du, das macht einen guten Eindruck auf die Leute hier?«
»Shaun hatte mich angerufen und um Hilfe gebeten. Also helfe ich ihm.«
»Ja, wegzulaufen. Ich kann nicht glauben, dass ich dieses Gespräch führe! Ich kann nicht glauben, dass Shaun dich überhaupt angerufen hat.«
»Offenbar begreifst du nicht, was in dem Jungen vorgeht«, sagte Giulio.
»Aber du, was?«
»Er kommt sich wie ein Verbrecher vor. Er ist erst sechzehn …«
»Was weißt du schon über Sechzehnjährige.«
»Und du mischst dich in die Ermittlungen ein und bringst den Jungen in Verlegenheit.«
»Das geht dich nichts an«, stieß Joe wütend hervor.
»Es geht mich sehr wohl etwas an, wenn mein Enkel unglücklich ist, weil alle ihn schneiden und die Straßenseite wechseln, um ihm aus dem Weg zu gehen.«
»Hier wechselt niemand die Straßenseite!«
»Shaun sieht das anders. In seinem Alter braucht man Anerkennung. Und die findet er in eurem ach so idyllischen Dorf nicht. Lass den Jungen gehen, bevor er dauerhafte Schäden davonträgt.«
»Sag mal, hast du was gutzumachen? Weht daher der Wind? Willst du jetzt für Shaun da sein, weil du nie für mich da gewesen bist?«
»Sieh dir doch an, was aus dir geworden ist. Du schaffst es ja nicht einmal, einer Sache auf lange Sicht treu zu bleiben.«
»Mein Gott, jetzt hält er mir wieder die Geschichte mit der Uni vor! Gut, dann erkläre ich es dir noch einmal, damit du es endlich kapierst. Es wäre niemals was daraus geworden. Ich war nicht dazu bestimmt, das zu werden, was dir in den Augen deiner Professorenfreunde oder wem auch immer größeres Ansehen verliehen hätte. ›Nein, mein Sohn ist bloß Polizist, zu mehr hat er es nicht gebracht.‹ Ich wette, darauf kommst du beim Mittagessen mit dem Dekan nicht oft zu sprechen, Dad, oder? Ich wäre ein mieser Entomologe geworden, aber ich bin ein guter Cop.«
»Warum hast den Job dann hingeschmissen?«
Joe hatte das Gefühl, kurz vor einem Schlaganfall zu stehen. Er atmete tief durch und kämpfte seinen Zorn nieder.
»Du meinst, ich wäre labil und unbeständig? Ist es nicht so, Dad? Was ist mit Anna? Was ist mit der Frau, die ich liebe und der ich am Tag unserer Hochzeit gelobt habe, immer für sie da zu sein? Achtzehn Jahre Ehe. Du siehst, dass es doch etwas gibt. Ich bin mit meiner Frau zusammengeblieben. Und du stimmst mir sicher zu, dass das viel ehrenwerter ist, als einfach abzuhauen, wenn es nicht mehr richtig läuft.«
Der Jeep stand nicht an seinem Platz, und es war niemand zu Hause, als Anna zurückkehrte. Doch Joes Handy lag in der Küche auf der Arbeitsplatte.
Anna ging das Foto auf dem Fax nicht aus dem Sinn, doch sie zwang sich, nicht darüber nachzudenken, was es bedeutete. Stattdessen konzentrierte sie sich auf das Projekt, das sie Nora zeigen wollte. Sie ging ins Arbeitszimmer, um die oberste Schublade des Aktenschranks zu öffnen, doch sie klemmte. Die Schublade darunter war geöffnet.
Anna zog sie heraus. Hinten lugte die Ecke eines Blattes aus einer braunen Mappe. Annas Hand schwebte zögernd über dem Blatt, denn
Weitere Kostenlose Bücher