Schattenturm
erfahren«, sagte Mick. »Oder lügt er nur?«
Anna fehlten die Worte.
»Robert wird Shaun nicht mehr besuchen«, sagte Mick und ging davon.
Anna stand wieder allein im Gang. Sie hielt die Tränen zurück, als sie zur Kasse ging. Als sie sich dort anstellte, hörte sie jemanden ihren Namen rufen, doch ihr stand nicht der Sinn danach, sich umzudrehen.
»Anna«, rief die Stimme erneut, und diesmal klopfte ihr jemand auf die Schulter.
Anna drehte sich um und sah in das zaghaft lächelnde Gesicht von Nora Deegan.
»Es muss furchtbar sein, was Sie durchmachen«, sagte sie mit lauter Stimme und drückte Annas Arm. Die Kassiererin musterte die beiden Frauen aus den Augenwinkeln.
»Wir sollten das aber nicht hier vertiefen«, sagte Nora. »Hätten Sie Lust, heute Nachmittag bei mir Kaffee zu trinken?«
»Sicher«, sagte Anna. »Sehr gern.«
Barry Shanley kam an die Tür und strich über eine kleine blutige Schramme auf seinem rasierten Schädel. Er atmete tief ein, als er sah, wer vor der Tür stand.
»Hallo, Barry. Darf ich reinkommen?«, fragte Frank. Er blickte auf Barrys Kampfanzug und sein schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck: Lasst keinen Mann zurück.
»Klar doch.« Barry trat zur Seite.
»Ist dein Vater da?«
Barrys Vater arbeitete auf den Fähren in Rosslare und war selten zu Hause.
»Ja.«
»Und deine Mutter?«
Barry nickte. »Auch. Soll ich sie holen?«
»Ja. Mit dir muss ich ebenfalls sprechen«, sagte Frank.
»Okay.«
Mr und Mrs Shanley führten Frank ins Wohnzimmer, nachdem sie ihn begrüßt hatten, und nahmen misstrauisch auf dem Sofa Platz. Barry lungerte an der Tür herum. Frank zog einen Ausdruck der E-Mail aus der Tasche, faltete das Blatt auseinander und reichte es Mr Shanley.
»Was ist das?«, fragte er.
»Früher schrieb man anonyme Briefe, heutzutage versendet man E-Mails. Die hier wurde Shaun Lucchesi geschickt, und ich glaube, Barry ist der Absender.«
Die Shanleys starrten Frank ungläubig an.
»Das sehe ich zum ersten Mal«, rief Barry.
»Wirklich?«, sagte Frank. »Als ich gestern von der Wache nach Hause gefahren bin, habe ich einen kleinen Umweg gemacht und euren Computerlehrer aufgesucht, Mr Russel. Er konnte die Spur der Mail bis zu dir zurückverfolgen, Barry.«
»Das muss ein Irrtum sein«, sagte Mrs Shanley. »Es ist gemein, jemandem so was zu schicken, egal, was Shaun Lucchesi getan hat. Barry würde so etwas niemals tun.«
»Was glauben Sie denn, was Shaun getan hat?«, fragte Frank.
Mrs Shanley errötete.
»Aber Sie haben Recht«, sagte Frank. »Es ist gemein, jemandem so eine Mail zu schicken. Nur fürchte ich, dass Barry sie geschickt hat.« Er drehte sich zu dem Jungen um. »Mr Russel ist Computerexperte, Barry. Er würde vor Gericht beschwören, dass du der Absender dieser Mail warst.«
Barry riss die Augen auf. »Ich muss vor Gericht?« Er begann zu zittern.
»Das ist deine Schuld!«, sagte Mrs Shanley zu ihrem Mann. »Du bist nie zu Hause. Wie sollst du den Jungen da vernünftig erziehen?«
Frank musterte Barry. »Nein«, sagte er. »Du musst nicht vor Gericht. Aber ich glaube, du musst dich bei den Lucchesis entschuldigen.«
Barry brach in Tränen aus. Es war sechs Uhr morgens, als Danny Markey sich über die Sofalehne beugte und zum Hörer griff.
»Du weißt nie, wer heutzutage auf deinen Hamburger spuckt«, sagte er.
»Was ist los, Danny?«, fragte Joe. »Warum bist du schon auf?«
»Mal wieder eine Sofanacht im Hause der Markeys. Ich habe mit diesem Kane gesprochen. Verkauft Burger hier in New York. Der Berg kam sozusagen zum Propheten. Übrigens, ›Berg‹ trifft es ziemlich gut. Kane ist ein Kerl wie ein Baum, wirkt aber irgendwie gutmütig. Wenn man ihn so sieht, traut man ihm gar nicht zu, was er alles auf dem Kerbholz hat. Folter, Verstümmelung … Einem Typen hat er ein Auge ausgestochen, nur so zum Spaß. Kane ist ein verdammter Psychopath.«
»Was hat er über Rawlins gesagt?«
»Leider nicht viel. Dass er verrückt ist. Besessen von Harris Hawks … das sind irgendwelche Raubvögel. Bussarde, glaub ich. Als Riggs getötet wurde, ist Rawlins völlig durchgedreht, fand es aber wunderbar, dass Riggs die Frau und ihre Tochter in die Luft gesprengt hat. ›Er steht zu seinem Wort‹, soll Rawlins gesagt haben. Tja, das war’s auch schon an Informationen. Du wurdest nicht erwähnt, Joe.«
»Damit habe ich auch nicht gerechnet. Ich … ich weiß nicht …« Joe verstummte und stöhnte dumpf. In seinem Kopf herrschte das Chaos.
»Du
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