Schattenturm
Möglichkeiten, zum Beispiel eine Operation …« Lara lachte, als sie sah, dass Joe das Gesicht verzog. »Aber das ist wohl nicht Ihr Fall.«
Joe zuckte die Schultern.
»Von allein geht das nicht weg.«
»Könnten Sie mir nicht etwas verschreiben?«
»Ich bin für die Toten zuständig.«
»Ja, stimmt.« Er lächelte.
»Ich nehme an, in letzter Zeit gab es für Sie nicht viel zu lachen«, sagte sie.
»Stimmt ebenfalls.«
»Hier«, sagte Lara. Sie beugte sich über den Schreibtisch und notierte etwas auf einen Block. »Das ist der Name einer Spezialistin in der HNO-Klinik, Dr. Morley. Sie müsste Ihnen helfen können. Wir haben zusammen studiert. Sie hat mir meinen Freund ausgespannt.«
»Und jetzt schicken Sie mich aus Rache zu ihr?«
»Der Punkt geht an Sie«, sagte Lara lächelnd. »Geben Sie mir den Zettel zurück.« Sie strich den Namen durch und schrieb einen anderen darunter. »Hier. Suchen Sie diesen Arzt auf. Er ist nicht der Typ, der sofort zum Messer greift.«
Joe bedankte sich bei der Gerichtsmedizinerin und verabschiedete sich. Lara ging zu ihrem Assistenten.
»Gill?«, sagte sie. »Sie kennen meine Zange?«
Gill nickte.
»Wenn ich damit jetzt sofort etwas entfernen könnte, würde ich mich für den Platinring am vierten Finger der linken Hand des Mannes entscheiden.«
»Platin«, meinte Gill, »sagt alles.«
»Ich kann es nicht fassen, dass ich ihn beinahe zu dieser blöden Kuh in der HNO-Klinik geschickt hätte.« Sie seufzte. »Scherz beiseite. Sie müssen mir eine Akte heraussuchen.«
»Ist das jetzt auch wieder ein Scherz?«
»Nein.«
John Miller saß vor einem Pint an der Theke und spielte mit einem Whiskeyglas. Ed beobachtete ihn ein paar Minuten, ehe er sich über die Theke beugte und John eine Standpauke hielt.
»Ich will dir mal was sagen«, begann er. »Und ich hoffe, du hörst mir zu.«
»Was?«, sagte John.
»Du bist kein Alkoholiker.«
John stellte sein Glas auf die Theke.
»Hör zu, Miller. Dein Körper ist nicht süchtig nach Alkohol. Du bist nur süchtig danach, betrunken zu sein, um zu vergessen. Du könntest sofort mit der Sauferei aufhören, und das weißt du auch. Aber in sechs Monaten sieht es vielleicht schon ganz anders aus.«
»Mein Gott, ich komme nur hierher, um ein paar Gläschen zu trinken«, sagte John.
Ed schlug mit der Faust auf die Theke. Dann drehte er sich um und nahm ein Foto von der Wand. Es war ein Bild des Highschool-Rugbyteams von 1979. Ed knallte es auf die Theke und zeigte auf die hintere Reihe, wo John Miller stand – jung, gesund und mit einem breiten, freundlichen Lachen.
»Du warst mal ein Gewinner«, sagte Ed.
»Ach, im Grunde ist doch alles scheißegal.«
Ed hob die Stimme. »Nun sei doch nicht so verdammt schwierig! Ich habe genug Gäste. Auf einen mehr oder weniger kommt es mir nicht an. Ich höre mir dein Gejammer über deine Frau und deine Kinder jetzt seit einem Monat an. Hör endlich auf zu winseln und tu etwas! Wenn deine Frau den neuen Kerl nicht mehr will, wird sie das Wrack, das du mittlerweile bist, garantiert nicht zurückhaben wollen.«
Victor Nicotero wollte gerade den Hörer abnehmen, als er das rote Blinklicht des Anrufbeantworters sah. Er drückte auf die Wiedergabe-Taste.
»Hi, Nic«, erklang Joes Stimme. »Hier Joe Lucchesi. Die Reise nach Texas hat sich erledigt. Ich bin nicht sicher, ob … was soll ich sagen? Es passt alles, und doch wieder nicht. Ich bin völlig durcheinander. Auf jeden Fall vielen Dank.«
Anna war müde und blass, als sie zum Supermarkt kam. Rasch lief sie durch die kurzen Gänge zwischen den Regalen und versuchte, die verstohlenen Blicke der anderen Kunden zu ignorieren. Dennoch bekam sie heiße Wangen und feuchte Hände. Der Einkaufskorb rutschte ihr aus der Hand. Als sie sich bückte, um ihn aufzuheben, fiel ihr Blick auf ein Paar Anglerstiefel. Sie schaute auf.
»Was Shaun getan hat, gefällt mir nicht«, sagte Mick Harrington. Obwohl er sich die Worte offenbar zurechtgelegt hatte, war ihm die Situation sichtlich peinlich.
»Wie bitte?«, fragte Anna.
»Er hat Robert benutzt, um seine Spuren zu verwischen. Shaun hat ihn gedrängt, nach Seascapes zu gehen und das Licht auszuschalten, nachdem er mit Katie dort war. Robert hätte verhaftet werden können.«
»Davon wusste ich nichts«, sagte Anna. »Was soll ich dazu sagen, Mick? Shaun geht es nicht gut. Ich hatte keine Ahnung, sonst hätte ich etwas unternommen …«
»Sie und Joe scheinen nicht viel von Ihrem Sohn zu
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