Schattenturm
brauchst Abstand zu dem Fall, Joe. Du bist ja nicht mehr du selbst. Ist alles in Ordnung? Hast du getrunken?«
»Nein. Ich habe verdammte Schmerzen.« Und nichts passte zusammen.
»Es wird sich alles aufklären, Joe. Letztendlich werden sie irgendeinen Irren aus dem Dorf überführen.«
»Das glaube ich nicht, Danny.«
»Du hörst dich an, als solltest du mal richtig ausschlafen.«
Joe rieb sich die Augen. »Schlafen? Wo ich vor Schmerzen fast an die Decke gehe? Tolle Idee.«
»Ach ja«, sagte Danny, »das Beste hätte ich fast vergessen. Was Kane über das Lösegeld gesagt hat. Ich habe ein bisschen recherchiert, und offenbar hat er die Wahrheit gesagt. Ich schick dir die Hayley-Gray-Akte mit FedEx rüber.«
Anna war noch nie im Haus der Deegans gewesen. Es befand sich in einer Nebenstraße in Mountcannon, auf der anderen Seite des Dorfes, und hatte keinen Seeblick. Es war ein schmuckes Gebäude mit neuem Strohdach und den traditionellen grünen Fensterrahmen und Türen. Eine Klingel gab es nicht, deshalb pochte Anna mit dem Messingklopfer an die Tür.
Nora Deegan öffnete.
»Danke, dass Sie mich eingeladen haben«, sagte Anna nach einer kurzen Begrüßung. »Hier im Ort haben wir kaum noch Freunde. Besonders Shaun leidet unter dieser Geschichte.«
»Die Frau des hiesigen Sergeanten wird wohl kaum die Mutter eines Mörders zu sich nach Hause einladen«, sagte Nora, als sie Anna ins Haus führte.
Noras direkte Art schockierte Anna ein wenig, doch sie rang sich ein Lächeln ab.
»Außerdem war meine Einladung nicht ganz uneigennützig, um ehrlich zu sein«, fuhr Nora fort. »Ich hatte gehofft, Sie könnten mir ein bisschen auf die Sprünge helfen.«
»Gern, wenn ich kann. Um was geht es?«
»Um die Kunstausstellung. Ich möchte alles so perfekt wie möglich gestalten.«
»Ich würde Ihnen ja gerne helfen«, sagte Anna. »Aber wollen Sie das wirklich? Ich möchte nicht, dass Sie meinetwegen Schwierigkeiten bekommen. Sie wissen ja, wie die Leute sind.«
Nora verdrehte die Augen. »Ich brauche eine Expertin, die sich darauf versteht, meine Gemälde ins beste Licht zu rücken. Das Geschwätz der Leute interessiert mich nicht.«
»Eine Expertin für die Präsentation von Kunstgegenständen bin ich nicht. Das ist auch für mich Neuland.«
»Aber Sie haben ein Händchen für so etwas. Schließlich arbeiten Sie für eine der angesehensten Architekturzeitschriften der Welt.«
»Das habe ich guten Kontakten zu verdanken«, sagte Anna. »Außerdem hatte ich Glück. Die haben nicht an meine Tür geklopft, sondern ich an ihre. Meine Uni-Dozentin hat mich dabei unterstützt und mich an ihre Freundin verwiesen, die bei der Zeitschrift arbeitet.«
»Dann haben Sie ’s trotzdem verdient. Man hätte Sie nicht genommen, wenn Sie nichts auf dem Kasten hätten.«
Shaun zog den Koffer aus dem Wandschrank und legte ihn aufs Bett. Er nahm gerade frische Wäsche aus dem Kleiderschrank, als Joe die Treppe herunterkam.
»Was soll das?«
Shaun wirbelte herum. »Kannst du nicht anklopfen?«
»Das habe ich, aber du hast es anscheinend nicht gehört. Was tust du da?«
»Packen.«
»Das sehe ich. Und wo willst du hin?«
»Nach Hause. Zurück nach New York.«
»Wie bitte?«
Shaun senkte den Blick. »Großvater hat mir ein Ticket geschickt.« Er zeigte auf den Schreibtisch. Joe sah den dünnen Umschlag mit den Reiseunterlagen.
»Lass uns darüber reden, Shaun«, sagte Joe. »Jetzt stell erst mal den Koffer in den Schrank zurück. Ich will …«
»Was du willst, interessiert mich einen Dreck!«, fiel Shaun ihm schroff ins Wort. »Ich will weg aus diesem Kaff. Alle hier hassen uns!«
Nora nahm einen Stapel Bücher und Zeitschriften vom Schreibtisch, der in einer Ecke des Wohnzimmers stand, trug die Unterlagen in die Küche und legte sie auf den Küchentisch. Sie schlug die Seiten jener Bücher auf, die sie mit Lesezeichen markiert hatte, und zeigte Anna die Künstler, deren Bilder sie ausstellen wollte. Gemeinsam sahen sie sich Zeitungsausschnitte aus dem Kulturteil von Tageszeitungen und Kunstzeitschriften sowie Fotos und Faxe von anderen kleinen Galerien in Irland an.
»Ich glaube, ich habe da etwas, das Sie interessieren könnte«, sagte Anna. »Es geht um eine Idee, mit der ich schon länger geliebäugelt habe, zu deren Umsetzung mir aber die Möglichkeiten fehlen.«
»Großartig!«, sagte Nora. »Und was genau …«
»Wer ist das?«, unterbrach Anna sie und zeigte auf die obere Hälfte eines finsteren Gesichts,
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