Schattenturm
es war Joes Schublade. Schließlich aber griff sie hinein und zog das Blatt heraus. Es war ein kurzer Brief an die Personalabteilung des New York Police Department, Police Plaza Nr. 1.
Anna stockte der Atem, als sie das Schreiben überflog.
Joe Lucchesi, NYPD, Mordkommission, bittet um schnellstmögliche Wiedereinstellung …
Wütend trat Anna gegen die Schublade.
Der Himmel über dem Mariner’s Strand war grau. Joe stapfte durch den körnigen Sand und wünschte sich, einer der Spaziergänger zu sein, die den Blick auf das Meer genossen. Doch Joe hatte keine Augen dafür. Stattdessen erfüllte ihn Trauer – Trauer um die Krise in seiner Ehe, Trauer um Shauns Schmerz, Trauer um Katie.
»Hallo, Joe!«, riss eine Stimme ihn aus seinen trüben Gedanken.
Er hob den Blick und sah Frank und Nora Deegan, die auf ihn zukamen.
»Ich weiß nicht, ob es eine gute oder schlechte Nachricht für dich ist, Joe«, sagte Frank ohne Vorrede, »aber ich habe herausgefunden, wer Shaun die Mail geschickt hat. Es war Barry Shanley aus der fünfte Klasse der St. Declan. Er wollte den starken Mann markieren.«
»Bist du sicher?«, fragte Joe.
»Ich war bei dem zuständigen Lehrer. Er konnte die Mail zurückverfolgen. Es gibt keinen Zweifel. Außerdem hat Barry es zugegeben.«
»Danke, Frank«, murmelte Joe.
»Übrigens, Richie war heute bei Mae Miller, und er sagt, dass mit Maes Verstand alles in Ordnung sei. John Miller kann ein komischer Kauz sein. Vielleicht wollte er nur Mitleid.«
Anna lief durchs Haus und überlegte, was sie tun sollte. Ihr stand nicht der Sinn danach, ihre Wut in einem Telefongespräch mit Joe abzureagieren. Er sollte auf andere Weise zu spüren bekommen, wie verletzt und enttäuscht sie war.
»Zum Teufel mit dir«, zischte Anna. Sie war gerade auf dem Weg zurück ins Arbeitszimmer, als es klingelte. Immer noch wütend, lief sie durch die Diele und riss die Tür auf. Ein Mann stand lächelnd vor ihr. Er trug braune Wanderstiefel, enge Jeans, ein kariertes Hemd und eine cremefarbene Weste. Plötzlich schlug Anna das Herz bis zum Hals. Sie erstarrte. Der Fremde erinnerte sie an Gary, den seltsamen Mann, der angeblich für Mark, den Gärtner, eingesprungen war. Anna starrte auf die Sehnen an seinen Armen. Dann hob sie den Blick, und beide sahen sich in die Augen. Das Lächeln des Mannes erlosch. In der verzweifelten Hoffnung, die Tür noch zuschlagen zu können, stemmte Anna ihren nackten Fuß gegen das Holz. Obwohl sie ihre ganze Kraft aufbot, gelang es Duke, die Tür aufzustoßen. Als Annas Fuß über das raue Holz glitt, zog sie sich Splitter ins Fleisch. Sie schrie auf, zog den Fuß zurück, prallte mit dem Rücken gegen die Wand, fiel auf die Knie und kroch an Duke vorbei.
Mit einem Schritt war er bei ihr. Er umklammerte ihre Taille und drückte mit dem Arm ihren Magen und ihre Rippen zusammen. Anna versuchte vergebens, sich aus der Umklammerung zu befreien. Als Duke sie rückwärts durch die Tür schleifte, sah sie sein verzerrtes Spiegelbild auf der Glasscheibe. Sie starrte in seine geweiteten Pupillen und begann zu schreien.
Wenn die Augen die Fenster zur Seele eines Menschen sind, war die Seele dieses Mannes schwarz wie die Nacht.
Robert Harrington kletterte aus dem Fenster seines Zimmers auf das Dach des Wintergartens, hob vorsichtig ein Bein über die Glasscheibe und setzte den Fuß behutsam auf das Aluminium. Dann schwang er das andere Bein aufs Dach, sprang in den Garten hinunter und lief zur Straße.
»Sturmfreie Bude«, sagte Shaun, als er die Tür öffnete. »Meine Eltern sind nicht da.«
»Klasse«, sagte Robert. »Shaun allein zu Hause. Wie romantisch. Übrigens, du siehst beschissen aus.«
»Danke. Komm rein. Ich erzähle dir alles. Mein Leben ist ein einziges Chaos. Wir sollten die Hausbar plündern und uns ins Vergessen stürzen.«
»Gute Idee«, sagte Robert. »Ich hab Ali angerufen. Sie ist auf dem Weg hierher.«
Der Küchentisch war mit Akten übersät. Frank saß mit aufgestützten Ellbogen da und las in einer aufgeschlagenen Mappe. Nora stand in der Tür.
»Ich wollte dir doch erzählen, was heute passiert ist …«
Frank hob eine Hand, um sie zu unterbrechen, und schaute sie mit müden Augen an.
»Tut mir Leid. Ich stecke bis zum Hals in Arbeit.« Er schob den Stuhl ein Stück vom Tisch zurück.
»Ich weiß, mein Schatz«, sagte Nora. »Du siehst blass aus. Ist alles in Ordnung?«
»Mein Magen rebelliert wieder.« Er wies mit dem Kopf auf die Kaffeekanne.
»Ab und
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