Schattenwandler: Kane (German Edition)
unmittelbare Gefahr, in der er schwebte, war noch immer nicht zu ihm durchgedrungen, und er konnte sich nur schwer davor zurückhalten, noch einmal die Hand nach der Frau auszustrecken. Obwohl er sich keiner Schuld bewusst war, senkte er doch den Blick auf den schmutzigen Asphalt und schob die Hände tief in die Hosentaschen, wo er die Finger in das Futter krallte und sich krampfhaft festhielt. „Ich wollte nichts tun. Ich war nur … unruhig.“
„Verstehe. Und du wolltest die Frau verführen, um dich zu beruhigen?“, fragte Jacob geradeheraus und verschränkte die Arme wie ein Vater, der seinen widerspenstigen Sohn zurechtweist – einen immerhin fast hundertjährigen Sohn, was angesichts des Ernsts der Lage aber keiner von ihnen lustig fand.
„Ich wollte ihr nicht wehtun“, wehrte sich Kane. Er würde ihr niemals wehtun. Sie war so kostbar, und sie bedeutete ihm alles. Er wollte ihr so aufrichtig und inbrünstig seine ganze Liebe schenken, wie er nur konnte.
„Ach nein?“, entgegnete Jacob voll unüberhörbarem Sarkasmus. „Was hattest du denn dann vor? Wolltest du höflich fragen, ob du deine ganze wilde Natur freundlicherweise an ihr austoben darfst? Könnte man es so ausdrücken?“
Kane schwieg trotzig. Er wusste, dass der Vollstrecker seine Absichten von Anfang an durchschaut hatte. Sich zu wehren oder alles abzustreiten würde es nur noch schlimmer machen. Zudem stand der Beweis für Kanes Verfehlung ja direkt vor ihnen.
Einen flüchtigen, köstlichen Moment lang stellte Kane sich in den lebendigsten Farben vor, wie diese Verfehlung sich hätte gestalten können. Dabei fiel sein Blick wieder auf die Frau, die in all ihrer Schönheit und Gelassenheit vor ihm stand, und er unterdrückte einen lustvollen Schauer. Wäre Jacob doch abgelenkt gewesen und nur eine halbe Stunde später erschienen …
„Das ist eine schwierige Zeit für uns Dämonen, Kane. Die anderen haben genauso mit ihren niederen Gelüsten zu kämpfen wie du“, erklärte der Vollstrecker ungerührt, als wäre er es, der Gedanken lesen konnte, und nicht Kane. „In nicht ganz zwei Jahren bist du erwachsen, und trotzdem lässt du dich von mir erwischen wie ein richtiger Grünschnabel.“ Da war dieses Wort schon wieder. Diese abwertende Bezeichnung. „Überleg doch mal, was ich jetzt gerade alles tun könnte, wenn ich nicht meine Zeit damit verschwenden müsste, dich vor dir selbst zu schützen.“
Die Bemerkung war wie ein Schlag ins Gesicht und traf Kane tief. Süßes Schicksal, Jacob hatte recht. Immer wenn es auf Samhain zuging, lastete die Bürde seines Amtes noch schwerer auf ihm als sonst, und das Letzte, was er brauchen konnte, war, dass sein kleiner Bruder ihm Scherereien machte. Jacob hatte sich sein Amt nicht ausgesucht, nein, es war ihm nach dem unerwarteten Verschwinden ihres ältesten Bruders Adam überraschend zugefallen. Man nahm an, dass Adam damals, vor vielen Jahrhunderten, einem Nekromanten in die Hände gefallen und durch einen Beschwörungszauber getötet worden war. Jacob hatte seinen geliebten Bruder verloren und zugleich eine schwere Aufgabe geerbt, die ihn in seiner Welt mit einem Schlag zum Ausgestoßenen machte, zu einem notwendigen Übel – quasi einer Art dämonischer Innenrevision. Man brauchte solche wie ihn, doch obwohl er weiterhin zur selben Bruderschaft gehörte, wurde er von allen verachtet.
„Es tut mir aufrichtig leid, Jacob“, stieß Kane schließlich hervor und schämte sich, dass er seinen Bruder in eine heikle Lage gebracht hatte. Warum hatte er nicht gleich daran gedacht, welche Konsequenzen sein Handeln für Jacob haben würde? Er blickte zum Samhainmond hinauf, der an allem Schuld war, und spürte, wie ein tiefes Gefühl der Reue durch ihn hindurchfuhr wie ein Messer.
Ebenso tief wie sein Bedauern war nun auch das übermächtige Grauen angesichts dessen, was er getan hatte. Er hatte die heiligen Gesetze missachtet, und dafür wurde man bestraft – vom Vollstrecker. Nicht umsonst verschlug es schon bei dessen bloßer Anwesenheit allen den Atem vor Schreck, sodass sie ängstlich vor ihm zurückwichen.
Mit einem Mal konnte Kane verstehen, was für eine große Verantwortung auf Jacob lastete, und seine Schuldgefühle schnürten ihm schmerzhaft die Brust ein.
„Du wirst diese Frau wieder zu ihrem Begleiter zurückbringen, damit sie sicher nach Hause kommt, und du wirst dafür sorgen, dass sie sich nicht mehr an dein Fehlverhalten erinnert“, befahl Jacob. „Danach kommst du
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