Schattenwesen
Leider konnte ich mir das nicht leisten.
»Sie sagten, Sie schützen das Bild vor dem Verfall«, wechselte ich zu einem anderen, unverfänglicheren Thema.
Nachtmann nickte und deutete auf zwei graue Kästen, die ich für vorstehende Steine gehalten hatte. »Eine spezielle Klimaanlage, die Luftfeuchtigkeit und Temperatur regelt.«
Auch Anna schritt die Wand ab, doch ihrem Gesichtsausdruck konnte ich nicht entnehmen, ob sie geschockt war. Immerhin war sie sehr blass. Oder lag das am Licht?
»Großartig«, flüsterte sie. »Diese vollendete Harmonie der Farben! Diese italienisch anmutende Leichtigkeit!«
Okay, sie war vermutlich die bessere Schauspielerin von uns beiden! Cyriel trat neben sie und musterte ihr Profil interessiert, während sie mit eindrucksvoller Gestik die Linienführung des Bildes nachfuhr wie eine große Kunstkennerin – oder eine Aufschneiderin.
»Sie meinen also, dass die Details im Hintergrund italienisch wirken?«, fragte er.
Anna lächelte ihn so verführerisch an, dass ich ihr insgeheim wünschte, sie möge in seine Falle tappen. Aber ich hatte sie unterschätzt. Entweder hatte sie Ahnung oder sie war vorsichtig.
» Manches wirkt italienisch.« Sie wandte den Blick nicht von Cyriels Augen. »Aber Sie sind Ihrem Namen nach Holländer, also werden Sie mich jetzt bestimmt davon überzeugen, dass ein flämischer Meister dieses Fresko geschaffen hat?«
Ihre Baggerversuche und ihre offensichtliche Unkenntnis machten mich unruhig. Ich musste mich beherrschen, den Mund zu halten.
»Es ist hier nicht wie beim Fußball, wo man immer für die Mannschaft seines Landes jubelt«, murmelte ich dann doch.
Anna warf mir einen vernichtenden Blick zu, während Cyriel sich abwandte.
»Was denken Sie denn über das Fresko?«, fragte Nachtmann mich, und als ich den Kopf hob, hatte ich den Eindruck, dass er meine Zweifel an diesem Auftrag durchaus bemerkt hatte.
»Ungewöhnlich«, gab ich zurück und hoffte, dass mein Lächeln nicht allzu aufgesetzt wirkte. »Wer ist der Maler?«
»Das haben wir leider nicht in Erfahrung bringen können.«
»Ungewöhnlich schön!«, brachte Anna sich wieder ins Spiel. »Vielleicht das Werk eines Holländers, der eine Reise nach Italien gemacht hat? Vielleicht ein Schüler Tiepolos?«
»Interessante Theorie«, rutschte es mir heraus, »aber falsches Jahrhundert.«
»Und welche Theorie haben Sie über den Maler?«, wollte Cyriel von mir wissen.
»Der Künstler war ein Niemand«, stellte ich sachlich fest.
Anna huschte ein hämisches Lächeln über das Gesicht.Vermutlich hatte sie recht – ich machte mich bei unserem Gastgeber damit bestimmt nicht beliebter.
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Cyriel mit rauer Stimme.
»Erstens weil er das Bild nicht signiert hat, weder mit seinem Namen noch mit einer Jahreszahl. Und zweitens weil er an diesem Ort gemalt hat. Warum nicht in einer Kirche oder in einer Burg? Seltsam ist allerdings, dass ihm jemand teure Farben und Pinsel zur Verfügung gestellt hat, außerdem vermutlich ein paar Hilfskräfte, denn ein so großes Fresko kann ein Maler nicht allein malen. Also viel Aufwand, wenig Ehre. Ich vermute mal, dass der arme Hund hier gestorben ist, zusammen mit seinem letzten und vermutlich größten Werk.«
Anna sah mich spöttisch an. »Woher willst du das wissen? Hast du Blutspuren gefunden?«
»Das nicht, aber was glaubst du eigentlich, wo wir hier sind?«, gab ich zurück und ein Schauder rann mir über den Rücken, bevor ich aussprach, was mir mein Verstand schon längst geflüstert hatte. »Hast du so was noch nie gesehen? Das ist ein Verlies! Eine Gefängniszelle, zu der man keinen Schlüssel mehr braucht.«
Annas Gesichtszüge entgleisten.
»Das Gitter da oben nannte man auch das Angstloch«, bestätigte Herr Nachtmann. »Früher war es der einzige Zugang zu einem Verlies. Der zweite Eingang durch die Außenwand ist wohl erst viel später entstanden.«
Ich bemerkte, dass Cyriel mir neugierige Blicke zuwarf. »Wie sieht es denn mit der kunstgeschichtlichen Zuordnung aus? Welches Jahrhundert?«
Ich ließ mir Zeit, noch einmal alle Details des Freskoszu betrachten. Mein Vater hätte diese Antwort vermutlich viel schneller geben können, aber eine Schätzung konnte ich allemal abgeben. Nur dass mich immer noch etwas an dem Bild störte …
»Vierzehntes oder fünfzehntes Jahrhundert!«, ließ sich Anna vernehmen und deutete auf die Kleidung. »Und der Zustand ist bedenklich, wir müssten sofort anfangen, damit es
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