Schattenwesen
dass ich es nicht gleich beim Eintreten bemerkt hatte: Sieben Personen standen im Kreis um uns herum. Sie trugen mittelalterliche Kleidung und hinter ihnen blickte man durch gotische Bogenfenster auf eine wundervolle Landschaft und in einen blauen Himmel – absolut unmöglich, so tief unter der Erde! Erst ganz langsam begriff ich: Das gesamte Rund der Wand war bedeckt von einem Fresko! An dem ungewöhnlichsten Ort, an dem ich je eines gesehen hatte.
»Das ist ja der Hammer!«, sagte Anna leise und ging näher an das Bild heran. Dann sah sie sich noch einmal um und ihre Stimme bekam einen verzweifelten Unterton: » Das ist es? Hier sollen wir arbeiten?«
Cyriels Gesichtsausdruck war unergründlich, Gabriel verkniff sich ein Grinsen und Ruben Nachtmann wirkte ernst.
»Dieses Fresko liegt unserer Familie sehr am Herzen und wir haben versucht, es so gut wie möglich vor dem Verfall zu schützen. Aber jetzt muss es dringend restauriert werden.«
Sosehr mich das Angebot vor ein paar Wochen schon gewundert hatte – hier und heute konnte ich überhaupt nicht fassen, wie Herr Nachtmann auf die Ideegekommen war, diese Arbeit an Laien zu vergeben. Gut, ich hatte mit meinem Vater zusammen viele Bilder restauriert – aber diese Erfahrungen waren kein Hochschulabschluss.
»Wer malt ein Fresko in solch einem Keller?«, fragte Anna irritiert.
»Spielt das eine Rolle?«, fragte Ruben Nachtmann und betrachtete sie eingehend.
Anna wich seinem Blick aus und gab vor, sich intensiver mit dem Bild zu beschäftigen.
Ich wusste nicht, ob sie verstand, was er meinte: Sein Honorar deckte alle Fragen ab. Wem das Fresko gehörte; ob wir nicht verpflichtet wären, diese Arbeit Profis zu überlassen. Aber damit durfte und konnte ich kein Problem haben. Für das Geld würde ich auch Bilder an der Innenwand einer Kühltruhe restaurieren … dann würde ich mich eben warm anziehen. Nun ja, ein Problem gab es dennoch.
»Die Qualität der Arbeit kann nur so gut sein wie die Qualität des Lichts«, wandte ich mich an Nachtmann. »In einem meiner Koffer habe ich zwar eine Tageslichtlampe, aber ich habe keine Steckdose gesehen. Meinen Sie, man könnte …?«
Unser Gastgeber schmunzelte und legte seine Hand auf eine Kante, die oberhalb des Freskos verlief und es optisch begrenzte. Sie war mir zunächst nicht aufgefallen. Noch erstaunter war ich, als plötzlich warmes Licht unter der Kante aufflammte.
»Es gibt Strom?«, staunte ich mit einem Lachen und entdeckte nun auch das graue Kabel, das gut getarnt an der Wand empor bis ganz nach oben durch das Gitter führte.
»Natürlich. Glauben Sie, in meinem Labor könnte ich ohne Strom arbeiten?«
»Ich dachte, weil im Arbeitszimmer Ihres Assistenten Fackeln an der Wand steckten …«
Ruben warf Cyriel einen spöttischen Blick zu. »Er ist der Meinung, dass Licht eine Frage der Stimmung ist und dass Technik die Kreativität bremst. Andererseits benutzt er einen Laptop. Vor manchen genialen Erfindungen kann ein Wissenschaftler sich eben nicht verschließen«, lächelte er.
Cyriel zuckte scheinbar ungerührt mit den Schultern.
Fasziniert wandte ich mich wieder dem Gemälde zu. Das Licht veränderte alles und ich konnte gut verstehen, warum Cyriel Fackeln bevorzugte – obwohl sie natürlich Gift für jede Wandmalerei waren. Die Figuren wirkten jetzt weniger … magisch. Und das Bild gab Geheimnisse preis, die ich im Halbdunkel nur vermuten konnte.
»Die Gesichter!«, stieß ich erschrocken hervor und schluckte. Das konnte nicht wahr sein, was sich da im Licht präsentierte!
Nachtmann schmunzelte und deutete auf die Person direkt vor ihm – die sein Spiegelbild zu sein schien, abgesehen von der Kleidung.
»Wir haben uns schon vor längerer Zeit den Spaß gemacht, den Figuren unsere Gesichter zu geben. Sehen Sie sich um! Das hier ist mein Bruder Richard mit seiner Frau Antonia und seiner Tochter Jolanda. Hier ist Gabriel, da meine Cousine Katharina. Und dort drüben ist sogar Cyriel.«
Seine lässige Bestätigung war eine Dreistigkeit! Mein Herzschlag galoppierte meinen Gedanken davon,während ich mich weiterhin über das Bild beugte. Nachtmann durfte mein Gesicht nicht sehen! Dass ihm das Bild nicht gehörte, damit hätte ich leben können. Aber es einfach übermalen zu lassen – das war Mord an der Kunst! Restaurieren bedeutete zu bewahren und nicht zu zerstören. Mein Vater hatte bestimmt nicht geahnt, was hinter diesem Auftrag steckte. Er wäre ausgeflippt, wenn er es gesehen hätte.
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