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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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sämtliche Zutaten in einen großen Topf, indem sie das Schneidebrett am Griff packte, es schrägstellte und das Gemüse mit dem Messerrücken in die simmernde Brühe schob. Sie ließ alles zusammen aufkochen, nahm dann ihre Schürze ab und ging in den ersten Stock, bürstete ihr Haar und strich es ordentlich hinter die Ohren zurück. Sie knöpfte ihre geblümte Bluse auf, legte sie ab und zog einen locker sitzenden und frisch nach Weichspüler duftenden Pullover mit V-Ausschnitt an.
    Anne war sich klar, dass sie sich eigentümlich benahm, und fragte sich flüchtig, ob es der Schock sei. Aber Anne war nicht geschockt. Sie fühlte sich – ja, wie eigentlich? Sie fühlte sich wie in einem Kokon, fern jeder Wirklichkeit. Ihr war etwas bange, und sie hatte das unterschwellige Gefühl, dass die Dinge nicht so waren, wie sie sein sollten. Sie waren eher hyperreal denn unwirklich, so als könne sie bei einem Gegenstand plötzlich jeden einzelnen Farbpixel sehen. Es war wie die feinen Nadelstiche, die man in den Fingerspitzen bekam, sobald man die kalten Hände an die Heizung hielt und einem klar wurde, dass man lebte.
    Der Duft des Rindfleischeintopfes zog in Schwaden von der Küche herauf, dampfig und erdig. Anne ging langsam wieder hinunter, setzte mit Bedacht einen Fuß vor den anderen. Sie war sich bewusst, dass jede ihrer Handlungen jetzt große Sorgfalt erforderte, denn was auch immer sie im Krankenhaus erwartete, sie musste irgendwie damit umgehen, und sie wollte den kleinen Rest Normalität, der ihr blieb, so lange wie möglich auskosten. Das Hier und Jetzt: Raum und Zeit vor der Gewissheit dessen, was geschehen war. Noch hatte sie keine Vorstellung davon, was von ihr erwartet wurde oder wie schwer Charles verletzt war.
    Sie war sich noch nicht im Klaren darüber, wie betroffen sie war. Aber angesichts der Summe ihrer gemeinsamen Jahre schien sie der Gedanke an seinen Tod nicht übermäßig zu beunruhigen. Erst als sie sich eine flüchtige Vorstellung von dem Leben ohne ihn gestattete, wurde ihr doch ein wenig schwindelig.
    Solange sie nicht dort war, musste sie ihm auch nicht gegenübertreten.
    Also bereitete sie den Rindfleischtopf weiter zu. Erst danach wollte sie in den Wagen steigen und zum Krankenhaus fahren. Und erst von da an würde sich ihr Leben irgendwie verändern – inwieweit konnte sie sich noch nicht vorzustellen.
    Aber noch war es nicht so weit.
    Der Eintopf in der Kasserolle blubberte, und der Deckel klapperte sanft im Takt.
    Auf dem Display ihres Handys blinkt der Name ihrer Mutter auf.
    »Mum?«
    »Kannst du reden?«
    »Ja.«
    Sie weiß sofort, dass etwas Schlimmes passiert sein muss.
    »Es ist wegen Charles … Ich meine, wegen Dad. Daddy.«
    Böse Vorahnungen stellen sich mit einem hohlen Gefühl in der Magengrube ein. Die Stille der Verzweiflung erfasst ihr Herz. Für eine Sekunde glaubt sie, ihr Vater sei tot. Dieser Gedanke geht ihr unter die Haut, sie bekommt eine Gänsehaut. Kälte umfließt ihre Schultern.
    »Lieber Gott, nein. Nein!«
    Sie hört, wie ihr die Stimme versagt. Atemloses, trockenes Schluchzen steigt aus ihrer Kehle auf.
    »Alles in Ordnung«, erklärt ihre Mutter am anderen Ende. »Hör zu. Er ist okay. Er lebt.«
    Sie hört die Worte, ohne sie erst zu begreifen. Sie lässt sie auf sich wirken, formuliert langsam den Satz im Geiste nach.
    Nicht tot.
    Am Leben.
    Noch am Leben. Noch ein Teil von ihr.
    Und dann ist sie sich ihrer Gefühle nicht mehr sicher.

TEIL I

Anne
    A ls Anne noch ein Kind war und ihre Eltern spätabends von einer Party zurückkamen, stellte sie sich am liebsten schlafend. Teils, weil sie wusste, dass der Babysitter sie länger aufbleiben ließ, als es erlaubt war, und teils, weil sie liebend gern schauspielerte, simulierte, Erwachsenenstreiche spielte.
    Dann hörte sie die Schritte der Eltern auf der Treppe, das schwerfällige und bedächtige Raunen aus beschwipsten Kehlen, Geflüster und unterdrücktes Gekicher. Sie knipste ihre Nachttischlampe aus, machte die Augen fest zu, zog die Bettdecke eng um sich. Ihre Eltern näherten sich ihrem Zimmer und blieben einen Moment draußen stehen, ermahnten sich gegenseitig übertrieben ernst, leise zu sein, bevor sie die Tür öffneten und die Köpfe hereinsteckten. Die Stimme ihrer Mutter rief leise ihren Namen, jede ihrer Bewegungen begleitet vom metallischen Klirren der Ohrringe und Armreifen.
    Schließlich trat ihre Mutter auf Zehenspitzen lautlos an das Kinderbett und neigte den Kopf, um ihre Tochter sanft

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