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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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hatten ihm, zusammen mit dem sonnengebräunten, gesunden Teint, etwas ansprechend Joviales verliehen. Das war vor dem Unfall gewesen. Jetzt sind seine Lider geschlossen, zucken nur gelegentlich so, als schlüge das Herz eines kleinen Vogels schwach unter der Hautoberfläche. Geöffnet zeigten seine Augen das marmorierte Blau verwelkender Hortensienblüten: glanzlos, verblasst, entrückt.
    Die Tür geht auf, und eine Krankenschwester – die sympathische mit den Lachgrübchen – steckt den Kopf herein. »Tasse Tee, Anne?«
    Sie nickt erwartungsgemäß.

Anne; Charles
    C harles Redfern war, wie ihre Mutter es nannte, »ein toller Fang«. Anne entdeckte ihn am ersten Vorlesungstag in den hintersten Reihen, wo er sich mit seinen schlacksigen Gliedmaßen und eingesunkenen Schultern in einen Sitz gezwängt hatte. Er hob kurz den Kopf, als sie den Vorlesungssaal betrat, und sie hatte gerade noch Zeit, den Schwung seiner spitz hochgezogenen Augenbrauen zu registrieren, bevor er seine Aufmerksamkeit erneut dem abgegriffenen Taschenbuch auf seinem Schoß zuwandte.
    Den Titel des Buches konnte sie nicht erkennen. Später, viel später, fand sie heraus, dass es Ulysses von James Joyce gewesen war, ein Titel, den Charles nie zu Ende gelesen, die Lektüre stets nach einem Drittel des zweiten Kapitels aufgegeben hatte. Dennoch trug er es in jenen ersten Wochen an der Universität gern mit sich herum, gab sich den Anschein des rätselhaften Intellektuellen, um damit noch attraktiver und geheimnisvoller auf seine Kommilitonen zu wirken.
    Und natürlich hatte er damit Erfolg. Am Ende der ersten Vorlesungswoche war Charles Redfern der Schwarm sämtlicher weiblicher Erstsemester. Ein unterdrücktes Raunen und Flüstern ging durch die Reihen, wenn er den Mittelgang des Vorlesungssaales entlangschlenderte. Die Mädchen drückten ihre Nasen an den Fensterscheiben ihres Wohntraktes platt, wenn er auf dem Weg zur morgendlichen Trainingseinheit der College-Rudermannschaft am Fluss vorbeijoggte. Es hieß, er habe eine Freundin an der Sekretärinnenschule, die irgendjemand mal auf einem Ball getroffen haben wollte und die offenbar fantastisch aussah und sich äußerst geschmackvoll kleidete.
    Er sah unheimlich gut aus; der Typ Mann, bei dessen Beschreibung man sämtliche abgedroschenen Klischees bemühte: breitschultrig, groß gewachsen, mit einem entwaffnenden Lächeln, das sich langsam über eine Gesichtshälfte ausbreitete, bevor er in Lachen ausbrach. Sein Haar hatte die goldbraune Farbe von Karamellbonbons. Einmal hatte eine Freundin zu Hause in Kent sie gebeten, sein Profil zu beschreiben, und sie hatte sich sofort vorgestellt, wie es wohl wäre, wenn er im Zwielicht der Morgendämmerung neben ihr liegen würde.
    »Er sieht aus wie ein griechischer Gott«, hatte sie allen Ernstes geantwortet.
    »Das darf ja wohl nicht wahr sein!«, kreischte die Freundin. »Wie ein griechischer Gott? Dich hat’s ja übel er-wischt!«
    »Nein, wirklich! Er ist der schönste Mann, den ich kenne.«
    »Und er ist dein Freund? Du bist wirklich ein Glückspilz!«
    Die Freundschaft hatte diesen Dialog nicht lange überlebt.
    Doch Charles hatte zugleich auch etwas an sich, das sie permanent verunsicherte. Sie fürchtete, seinem guten Aussehen nichts entgegenhalten zu können, nie interessant und charmant genug für ihn zu sein, hatte Angst, dass sein Blick nach ein paar Sekunden wieder zu dem Taschenbuch abschweifen würde, das er immer noch nicht fertiggelesen hatte.
    Dennoch – es schien wie ein Wunder – behauptete er, in sie verschossen zu sein. Nach jener ersten Vorlesung begann er ihr aufzulauern, tauchte wie zufällig an der Pförtnerloge ihres Wohnheims auf, eine abgewetzte Büchertasche über der Schulter. Er war da, wenn sie irgendwo auf dem Campus einen Kaffee trank, saß an einem Ecktisch mit einer lärmender Gruppe in Rugbytrikots und warf von Zeit zu Zeit seinen musternden Blick in ihre Richtung. Oder er stand zwischen den Bücherregalen in der Unibibliothek, wo seine unverwechselbare Silhouette ihren Schatten über die staubigen Buchrücken warf. Er tauchte auf der Cocktailparty der Deutschen Gesellschaft auf, einer Veranstaltung, die Anne auf Drängen von Frieda, ihrer damaligen Freundin, besuchte. Frieda war eine selbstbewusste, exaltierte Sprachenstudentin, die alle gleichaltrigen Männer für hoffnungslos unreif hielt und die Gesellschaft von Examensstudenten oder Professoren suchte, wo immer sie diese entdeckte.
    »Komm mit«, drängte

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