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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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den Stoffhut ab und legte ihn sorgfältig auf den Terrassentisch. Sie fühlte die Wärme des Kindes auf ihrer Haut, atmete den süßen Duft nach geröstetem Brot und Honig ihres Haares ein und strich die dichten blonden Locken in ihrem Nacken glatt.
    »Sie sieht Charlotte so ähnlich, nicht wahr?«, sagte Janet, die Anne gegenüber am anderen Tischende saß und mit den Seiten der Sonntagsbeilage der Zeitung kämpfte. Anne wünschte, sie würde stattdessen eine Illustrierte lesen – das ständige Knistern und Rascheln des Papiers störte sie. Aber dann ermahnte sie sich stumm zur Gelassenheit. Es war eine neue Methode, die sie sich zurechtgelegt hatte: Sie versuchte, triviale Irritationen einfach beiseitezuschieben. Anstatt sich auf die negativen Angewohnheiten anderer zu konzentrieren, rief sie sich lieber all die guten Seiten der betreffenden Person ins Gedächtnis. Das jedoch entpuppte sich als schwieriger, als es geklungen hatte. Sie hatte von dieser Methode in einem Buch gelesen, dessen sie sich schon beim Kauf geschämt hatte. Es war eines dieser »Selbsthilfe«Ratgeber mit einem knalligen Einband und einer rhetorischen Frage als Titel. Anne hatte gedankenlos danach gegriffen, während sie in der Buchhandlung »Waterstone’s« an der Kasse in der Schlange gestanden hatte, hatte die ungewöhnliche Mischung aus Ratschlägen und Optimismus seltsamerweise sofort als tröstlich empfunden.
    »Ja.« Sie lächelte Janet zu. »Ja, das tut sie wirklich.«
    Sie spürte, wie Gracies Kopf immer schwerer wurde, und wusste, ohne sie anzusehen, dass ihr allmählich die Augen zufielen. Es war schon fast Gracies Bettzeit, aber Anne wollte sie noch nicht hergeben, noch nicht. Sie zog Gracie fester an sich, legte eine Hand sanft und schützend an die Seite ihres Kopfes, so dass sie die ungewöhnliche Weichheit der Haut ihrer Enkeltochter spürte.
    Seit Charles Tod waren mittlerweile fast drei Jahre vergangen. Anne fröstelte unwillkürlich bei dem Gedanken. Es kam ihr viel länger vor, und schien doch erst vor Kurzem gewesen zu sein. Manchmal wachte sie morgens auf und hatte vergessen, dass er nicht mehr da war. Sie fühlte noch seine Präsenz überall im Haus, auch nachdem sie sich endlich dazu durchgerungen hatte, das Arbeitszimmer neu einzurichten und in der Folge auch die übrigen Räume im Haus frisch zu streichen. Sie hatte das muffige voluminöse Polstersofa durch eine schlichte moderne Couch ersetzt, die Charles gehasst hätte. Sie hatte auch den Agaherd loswerden wollen, aber Charlotte hatte so heftig protestiert, dass sie schließlich ihre Meinung geändert hatte.
    Das Verhältnis zu ihrer Tochter war enger, vertrauter geworden, und obwohl Anne wusste, dass diese ihr nie die Liebe entgegenbringen würde, die sie für sie empfand, fand sie in dem neuen Verhältnis Ruhe und Kraft, und ganz vorsichtig auch Glück. Gabriel hatte viel dazu beigetragen. Er war ein Mann, der eine entspannte Atmosphäre verbreitete – lebhaft, humorvoll und, was das Erstaunlichste war, grundehrlich und offen. Außerdem tat er Charlotte gut. Die Schwangerschaft war ein Versehen gewesen, und Anne war sich anfangs nicht sicher, ob es eine gute Idee war. Sie hatte altmodische Ansichten über uneheliche Kinder. Aber dann wurde Gracie geboren, und Anne war ihr von Anfang an verfallen. Sie konnte gar nicht anders, als darüber glücklich zu sein.
    Charles war eingeäschert worden. Sowohl Anne als auch Charlotte waren wortlos übereingekommen, dass sie kein Grab wollten, das sie an ihn erinnerte. Anne hielt nichts von Friedhofsbesuchen, wo die Stille sie bedrückte, sie an ihre Fehler erinnerte. Und so hatten die beiden Charles’ Asche bei Kew Bridge in den Fluss gestreut. Keine von beiden hatte es gekümmert, ob dafür eine amtliche Erlaubnis nötig gewesen wäre. Daher hatte die Prozedur eine leicht hysterische Note bekommen, als sie abwechselnd händeweise das graue Pulver in das trübe, schnell fließende Wasser der Themse warfen. Sie hatten gelacht, sich für ihr Lachen schuldig gefühlt, was sie nur zu noch mehr Gelächter angestachelt hatte. Nachdem das erledigt gewesen war, waren sie in eine nahegelegene Kneipe eingekehrt und hatten sich doppelte Whiskys bestellt. Sie hatten getrunken und geschwiegen. Reden war nicht nötig gewesen. Und genau das war der entscheidende Unterschied.
    Nach der Bestattung von Charles’ Asche in der Themse hatte sich Anne eine ganze Weile einsam und verloren gefühlt. Ursache war weniger die Trauer um Charles,

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