Scherbenherz - Roman
Typisch, überlegt sie, dass er sich solche Mühe macht, sie an sich zu fesseln. Sie registriert ein vertrautes Aufwallen in der Magengegend, ein Stechen zwischen Hunger und Schmerz, in dem sie den Beginn einer unterdrückten, aber gefährlichen Wut erkennt.
Sie hat sich an diese unvermittelten, unerklärlichen Wutausbrüche gewöhnt und beachtet sie kaum, wartet ab, bis sie sich verflüchtigt haben. Ihre tiefe Traurigkeit, ihr Selbstmitleid scheint dann in Minutenschnelle in wahnsinnige Wut umzuschlagen. Vor Kurzem, bei der Hochzeit der Tochter eines Freundes, hatte man ihr eine Wunderkerze überreicht und sie gebeten, sie anzuzünden und zu schwenken, sobald sich das glückliche Paar in die Hochzeitsreise verabschiedete.
»Statt Konfetti«, sagte die Brautmutter, eine umtriebige Dame, die keinen Hehl daraus machte, dass sie sich für ein begnadetes Organisationstalent hielt.
»Wie interessant«, murmelte Anne, als sie merkte, dass sie sich beeindruckt zeigen sollte. »Und so … einfallsreich!«
Die Wunderkerze brannte schnell nieder, versprühte glitzernde Funken wie Löwenzahnsamen. Die Hochzeitsgäste jubelten dem Paar zu und winkten, bis der Beifall hohl und leer klang und die Brautmutter die Gäste in Taxis verfrachtete. Anne blieb allein mit der zu einem formlosen Stück Asche abgebrannten Wunderkerze in der Hand zurück, das leicht nach Schwefel roch. Und in diesem Moment, nach zu viel Champagner, wurde ihr klar, dass genau das mit ihr passierte, wenn das Gefühl enttäuschter Erwartungen ihre Emotionen entzündete. Aber es war nur ein kurzes Strohfeuer, das schnell erlosch und von niemandem bemerkt wurde.
Sie hätte gern mit jemandem darüber gesprochen, über dieses Gefühl, dass ihr Leben allmählich immer sinnentleerter wurde, sich stets um dieselbe eintönige Achse drehte. Mit Charles allerdings konnte sie längst nicht mehr über derart persönliche Dinge sprechen, und ihr spießiger, alles andere als enger vorstädtischer Bekanntenkreis wäre angesichts ihrer Offenheit schockiert gewesen. Bis zu Charles’ Unfall hatte sie die Gleichförmigkeit ihrer Tage deprimiert. Es war, als stecke sie ausweglos im Kreisverkehr eines anonymen Provinznests wie Swindon oder Blandford Forum fest, wo sie einmal mit Charles gewesen war, weil es dem Namen nach vage eine römische Vergangenheit versprochen und sich nur als Ausbund an schäbigen Cafés und Outlets erwiesen hatte.
Das Schlimmste war, dass an alledem sie allein die Schuld trug. Sie hatte Charles geliebt, bedingungslos geliebt, und liebte ihn vermutlich gegen ihren Willen noch immer. Doch anstatt Erfüllung zu finden, hatte das Leben mit Charles sie in einen Zustand permanenter Unzufriedenheit gestürzt. Sie findet überall und immer ein Haar in der Suppe. Sie pflügt sich mit einer unerbittlichen Beharrlichkeit durch jeden Tag, die nichts und niemanden ungeschoren lässt. Sie weiß längst nicht mehr, was Glück ist, kann es nirgends mehr finden, so als sei es ein Gegenstand, den sie unwiederbringlich verlegt hat, wie eine Münze, die in den Polsterritzen eines Sofas verschwunden ist. Sie kann sich nicht mehr erinnern, wann sie zuletzt gelacht hat. Sie fühlte sich ausgehöhlt, kann sich selbst kaum noch leiden und trägt schwer an der Bürde, nicht mehr aus der Ecke herauszukommen, in die sie sich manövriert hat. Sie wünschte, sich ändern zu können, doch allein der Versuch erscheint ihr zu mühsam.
So war sie allerdings nicht immer gewesen. Als ihre Mutter im vergangenen Jahr alt, blind und dement gestorben war, hatte Anne das kleine Apartment im Seniorenheim ausgeräumt und war auf bündelweise Briefe gestoßen. Darunter auch ein paar, die sie aus dem Internat geschrieben hatte. Jeder Einzelne war amüsant geschrieben mit Zeichnungen und Scherzen versehen. Die jugendliche Anne war vor ihren Augen wiederauferstanden, und sie hatte erstaunt deren Ungezwungenheit und Natürlichkeit, ihr argloses Selbstbewusstsein erkannt. Die Sätze waren mit Ausrufezeichen nur so garniert. Aber in Ausrufezeichen dachte sie längst nicht mehr.
Die asthmatischen, mechanischen, kaum hörbaren Atemzüge ihres Mannes rissen sie aus ihren Gedanken. Er ist noch immer ein gut aussehender Mann, denkt sie, während sie die kantige, klare Linie seines wie aus Metall gegossenen Kinns betrachtet. In die Haut seiner Augenpartie hatten sich in den letzten Jahren zahlreiche haarfeine Fältchen gegraben, aber diese Krähenfüße taten seiner Attraktivität keinen Abbruch. Sie
Weitere Kostenlose Bücher