Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
versilberten Besteck für den ungenannten Freund zu wählen. Bevor Lew sich entscheiden konnte, griff Strelkow nach einem Kupfer-Nickel-Set, das viel teurer war als alle anderen ausliegenden Bestecke. Lew schlug vor, ein billigeres zu kaufen, denn er wollte nicht, dass Strelkow sein schwer verdientesGeld verschwendete. Doch dieser hörte nicht auf ihn. Er reichte der Verkäuferin das Geld, wandte sich dann Lew zu und sagte: »Dies ist mein Hochzeitsgeschenk für dich und Swetlana.«
Danach begann Lews und Swetas Eheleben. Sie arbeitete weiter im Institut, und Lew suchte weiterhin eine Stelle. Die Amnestie hatte das Misstrauen der Arbeitgeber nicht gemindert, und er traf in Moskau auf die gleichen Vorurteile wie in Kalinin. Man wies ihn in Fabriken und Instituten ab – sogar im Moskauer Zoo, wo ein Elektriker gesucht wurde –, bis er schließlich in einem Werk, das wissenschaftliche Instrumente herstellte, als Ingenieur unterkam. In der Anzeige war von einem Ingenieur mit physikalischer Erfahrung die Rede gewesen, und der Chef freute sich so sehr, jemanden mit Lews wissenschaftlicher Ausbildung gefunden zu haben, dass er dessen Hinweis auf seine Haftzeit ignorierte und ihn sofort zum Chefingenieur schickte. Dieser erkundigte sich, wie viel Lew mit seinen Übersetzungen verdiene, und bot ihm dann einen höheren Betrag an, nämlich ein Anfangsgehalt von 600 Rubeln im Monat. Dieser Arbeiterdurchschnittslohn genügte zusammen mit Swetas Gehalt, das fast doppelt so hoch war, zum Leben.
Die beiden wohnten weiterhin mit Swetas Vater am Kasarmenny pereulok, wo die Jungverheirateten in demselben großen Zimmer wie Alexander schliefen, damit sie sich nachts um ihn kümmern konnten. Swetas Vater erholte sich allmählich. Er war nun aus dem Berufsleben ausgeschieden, las sehr viel und erledigte einen Teil der häuslichen Pflichten, während Lew und Sweta ihrer jeweiligen Arbeit nachgingen. Die drei verstanden sich gut, und zum ersten Mal seit seiner Kindheit – vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben – wurde Lew das Glück des Familienlebens zuteil.
Im Dezember1955 , mit 38 Jahren, brachte Sweta eine Tochter zur Welt, der sie, nach ihrer Mutter, den Namen Anastasia (Nastja) gab. Im Januar 1957 folgte ein Sohn, der nach Lews Onkel Nikita benannt wurde. In ihrem Alter und nach allem, was sie durchgemacht hatten, zwei Kinder zu haben muss ihnen wie ein Wunder erschienen sein.
1945 , nach einer der anstrengendsten Vernehmungsnächtedurch die SMERSCH-Ermittler in Weimar, hatte Lew geträumt, wie Sweta in einem weißen Kleid neben einem kleinen Mädchen kniete. Der lebhafte Traum hatte sich1949 , ein paar Tage nachdem Sweta aus Petschora abgereist war, wiederholt.
1962 machten Lew und Sweta mit den Kindern Urlaub auf Onkel Nikitas Datscha in Malachowka. Eines Tages wanderten sie über ein Feld hinweg, das an den Wald grenzte, zum See. Lew ging voraus, und Sweta folgte ihm mit Anastasia, die damals sechs Jahre alt war. »Als ich den Waldrand erreichte«, berichtete Lew, »hatte ich ein seltsames Gefühl … Ich drehte mich um, und hinter mir kniete Sweta in einem weißen Kleid auf dem Boden, um etwas an Nastjas Rock in Ordnung zu bringen. Genau das hatte ich in meinen Träumen gesehen: Sweta zur Rechten, und zur Linken unser kleines Mädchen.«
52 In sowjetischen Pässen war festgelegt, wo der Inhaber wohnen und arbeiten durfte.
Epilog
Im März 2008 kehrte ich nach Moskau zurück, um mich mit Lew und Swetlana zu treffen. Ich wollte einige Interviews mit ihnen aufzeichnen und sie nach den Briefen befragen, die sogar für russische Muttersprachler schwer zu lesen und zu verstehen waren. Denn die Texte enthielten zahlreiche Details, Codewörter, Initialen und verborgene Bedeutungen, die nur die Verfasser erklären konnten.
Zusammen mit Irina Ostrowskaja von Memorial suchte ich ihre Wohnung in einem Hochhaus in Jassenewo auf, einem Vorstadtbezirk im südwestlichen Winkel von Moskau. Am Lift wurden wir von Lew Glebowitsch empfangen, einem kleinen, schmalen Mann mit einem sanften, wettergegerbten Gesicht. Er war elegant mit einem hellblauen Hemd und einer grauen Hose bekleidet. Nachdem er sich in gebrochenem Englisch vorgestellt hatte, führte er uns mit natürlicher Höflichkeit in die Wohnung. Lew war für einen 91-Jährigen flink auf den Beinen. Während er die Möbel in dem schmalen Flur beiseiteschob, damit wir Platz für unsere Ausrüstung hatten, fiel mir auf, wie kräftig er war. Wir machten es uns in der
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