Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
Beschreibungen der täglichen Realität – von Komsomolmaßnahmen bis hin zu den langen Schlangen vor Geschäften und an Eisenbahnschaltern – erlauben uns, das Leben der Moskauer zu verstehen und die Atmosphäre der späten 1940er und frühen 1950er Jahre nachzuempfinden.
Ihre Briefe wurden in der Überzeugung geschrieben, dass alles, was sich in Moskau abspielte, von unmittelbarem Interesse und von Bedeutung für Lew und seine Mithäftlinge war. Sie bittet Lew um Rat, teilt ihre Zweifel mit ihm und bezieht ihn aktiv in ihren täglichen Lebensablauf ein, damit er sich von der normalen Welt weniger isoliert fühlt. Es ist, als führe sie ihr Leben für ihn mit. Sie teilt ihm ihre Eindrücke von den neuesten Filmen und Theaterstücken mit, schildert Treffen mit ihren Freunden und beschreibt Ereignisse in Moskau, damit Lew, wenn auch nur im Geist, den von Stacheldraht umzäunten engen Grenzen des Lagers entfliehen und etwas Ablenkung von der Monotonie seiner Arbeit finden kann.
Gleichzeitig werden die Geschehnisse im Lager zu einem Teil ihres eigenen Lebens. Sie versucht, Lew moralisch zu unterstützen und seinem Pessimismus sowie seiner Verzweiflung entgegenzuwirken, damit er nicht in Hoffnungslosigkeit abgleitet.
Der Mischtschenko-Iwanowa-Briefwechsel zählt Tausende von Seiten, und jede Seite ist von Liebe erfüllt, obwohl das Wort selbst nur selten in den Briefen zu finden ist. Lew und Swetlana schrieben sparsam über ihre romantischen Gefühle. Keiner der beiden wollte den anderen dadurch belasten, dass er ihm »das Herz ausschüttete«. Aber zuweilen kommen solche Gefühle im Text zum Vorschein, und dann ist nicht zu übersehen, dass dies die Briefe eines Mannes und einer Frau sind, die einander leidenschaftlich lieben.
1947 beschloss Swetlana, ohne offizielle Genehmigung nach Petschora zu fahren. Dabei machte sie sich keine Gedanken darüber, dass eine solche Reise – unternommen von einer Komsomolzin, die einen verurteilten »Volksfeind« besuchen wollte – ihre Karriere zerstören und sie ins Visier der politischen Polizei rücken lassen konnte. Sie war weder Lews Frau noch mit ihm verwandt; die Polizei hatte sie bereits verhört und bedroht. Eine Reise zum Lager war kompliziert und gefährlich: Swetlana ging das Risiko einer schweren Bestrafung und sogar einer Verhaftung ein, und sie hatte keine Gewähr dafür, dass sie Lew zu Gesicht bekommen würde. Trotzdem fuhr sie nach Petschora, und tatsächlich kam ein illegales Treffen mit Lew dank der Hilfe derselben Freunde zustande, welche die Briefe des Paares geschmuggelt hatten.
Der Mischtschenko-Iwanowa-Briefwechsel umspannt ein Jahrzehnt im Leben von zwei Menschen, deren Liebe trotz des repressiven Zugriffs durch das stalinistische System unversehrt blieb. Sie lebten voneinander getrennt und wurden nur durch ihre Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft aufrechterhalten. Ihre Briefe sollten als historisches Drama oder als Dialog zwischen Protagonisten gelesen werden, die einander liebevoll zuhörten und den geringsten Hinweis des anderen verstanden. Sie erzählen die Geschichte von zwei Menschen, die ungewöhnlich und doch typisch für die Sowjetgesellschaft waren. Für den Historiker ist der Inhalt jener Truhen ein einzigartiger Archivschatz, denn er enthüllt eine verborgene Welt der Emotionen und persönlichen Beziehungen, wie sie in kaum einem Dokument zu entdecken ist.
Irina Ostrowskaja
Internationale Gesellschaft Memorial
Quellen
Archive
Der Mischtschenko-Iwanowa-Briefwechsel ist im Archiv der Gesellschaft Memorial in Moskau zu finden. Die Briefe von Lew (LM) und Swetlana (SI) zwischen 1946 und 1954 sind durch das Jahr und eine Nummer gekennzeichnet (zum Beispiel wurde SI46–20, der erste in diesem Buch zitierte Brief, von Swetlana an Lew gerichtet, und es war ihr zwanzigster im Jahr 1946). Lew und Sweta nummerierten all ihre Briefe sehr sorgfältig, und ihr System wird beibehalten. Briefe der beiden aus der Zeit vor 1941 werden durch Verfasser und Datum (z. B. LM39–28.10) identifiziert. Andere Dokumente aus dem Mischtschenko-Iwanowa-Archiv sind individuell angeführt. Im Jahr 2013 wird der Mischtschenko-Iwanowa-Briefwechsel der Forschung offenstehen.
APIKM
Archiv des Historischen Heimatmuseums von Petschora (Memorial), Petschora
GU RK NARK
Volksarchiv der Republik Komi, Syktykwar
MSP
Archiv der Gesellschaft Memorial, St. Petersburg
Interviews
Alexandrowa, Irina Wladimirowna (Moskau,
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