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Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Titel: Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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    Das Dresden meines Temperaturgedächtnisses ist eine Winterstadt voller Fernwärmerohre und Heizungen, von deren Rippen die Farbe abgeplatzt war; oft lag ich, ein Junge von zehn oder elf Jahren, nachts wach und lauschte den Flüsterstimmen der Gespenster, die in der Braunkohle wohnten und durch die Überredungskünste von Riesaer Sicherheitszündhölzern und Flammat-Kohleanzünder (weiß, hartseifig – oder braun und zäh wie »Plombenzieher«-Toffeebonbons) aus ihren tertiären Schlafstätten gelockt wurden. Das Land driftete, gegen die kontinentale Geographie durch eine Betonmauer abgedichtet. Der Elbhang war ein Pflanzenkorb, vergiftet vom Fluß, der schwarzen Aorta der Stadt. Immer wieder ging es um Infiltration, erobernde Kräfte. Die herrschten, wollten in die Köpfe derer, die beherrscht wurden – die beherrscht wurden, wollten das, was in ihre Köpfe wollte, aus ihren Köpfen heraushalten; dadurch begannen auch sie zu herrschen, auf die dubiose, unerklärliche Weise, die den Gejagten Züge der Jäger verleiht. Insofern ist Macht eine Geisteswissenschaft. Verblüffend war, daß die trojanischen Schichten in Dresden umgekehrt lagen: Vergangenheit oben, auf den Dachböden; Zukunft, in Form von winterharten Lebensmitteln, Reparaturmaterial, Brennstoff, in den Kellern. Gefrorene Wespennester, Zellstoff-Pagoden ähnlich, waren Vorboten des Eindringens, gegen das die Bilder, die Klänge, die Namen helfen sollten.
    Für den Jungen, der ich war, gab es kaum einen anziehenderen Ort als den Dachboden der Oskar-Pletsch-Straße 11, Weißer Hirsch, das zweite Haus, nach einem Johannstädter Plattenbau, das auf mich den Eindruck einer Persönlichkeit machte. Wenn die Winde schnauften und das Schneegestöber weiße Mauern um den Elbhang wachsen ließ, knarrten die Dachbalken, als gehörten sie zur »Hispaniola«, dem Schatzinselsegler; manchmal hörte ich Käpt’n Flints schrille Stimme nach seiner Mannschaft rufen und sah, wenn die Glühbirne im Dachfirst mit Licht zu knausern begann, John Silver durch eine Hafengasse hinken, Billy Bones im »Admiral Benbow«, begleitet vom betrunkenen »Fünfzehn Mann auf des Toten Mannes Kiste«, in der Truhe nach der Schatzkartewühlen. Wenn ich mich jetzt, wieder von einem Dachboden, an diese entrückten Winter erinnere, gehe ich auf Reisen wie damals, als ich dick eingemummt zwischen Koffern und Kartons mit Weihnachtsutensilien hockte. Zwischen mir und dem Jungen liegt mehr als die 89er Revolution und eine tiefe Flutmasse Zeit; es liegt der Abstand zweier Planeten zwischen uns, von denen der eine, das Dresden als DDR-Provinzhauptstadt, mit dem Schelfeis der Vergangenheit bedeckt ist, und der andere, das Dresden der Gegenwart, mit digitalen Benutzeroberflächen. Und es ist ein Spinnenfaden nur, von Südsonne beglänzt, scharfrichterlich wie die Klinge eines langsam gehobenen Schwerts, der den einen Flugkörper mit dem anderen verbindet, meine Tintenmanufaktur voller Papier und Mappen mit den rötlichen Pfetten, dem Geruch nach Holz, der Spinnwebharfe in der Ecke des Dachbodenfensters Oskar-Pletsch-Straße 11, reißbrettgenau wie die Schraffur einer vorbildlich präzisen Grafikerin; Linien, myzelzart, zugleich kraftvoll – eine nach Lebendigem fischende Radierung. Wenn ich mich vor dem Fenster bücke, greift eine Baumkrone in die Wolken, die ihre Graugansbäuche mästen und gravitätisch, eine Kauffahrtei der Daunen, vorüberziehen; eins kommt zum andern, so daß ich, ein Rasiermesser aus dem Friseursalon Harand, mit Herkunftsschildchen bei Ausverkauf versehen, in der Hand, als Seiltänzer den Gang über den Spinnwebfaden antreten kann. Der Weiße Hirsch –
    … Friseursalon Harand: Rote Brennesseln verätzten unsere Gesichter, wenn wir, eine Horde Jungen vor der Jugendweihe oder Konfirmation, den Anweisungen des Demonstrators am eingeseiften Luftballon nicht genau Folge leisteten und die Rasiermesser falsch führten; rot, das war zum Erstaunen, rote Schneewittchenflecken in Harands weißen Tüchern. Der Salon befand sich in der runden Ecke Lahmannring / Collenbuschstraße und hatte getrennte Eingänge für Damen und Herren; am Dameneingang begann die Sphäre der Kaltwelle und Wasserstoffblondierungen, der Modezeitschriften und Trocknerhauben, unter denen die mit intrigengelben Lockenwicklern fixierten Frisuren gemächlich schwatzender, in der »FF Dabei« und »Neuen Berliner Illustrierten« blätternder Rentnerinnen dörrten. Am Dameneingang begann die Manöverkritik der

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