Schicksal aus zweiter Hand
soll in unserem Beruf nie weich werden, das müssen Sie sich merken. Auch nicht, wenn Sie glauben, daß es eigentlich Ihre Pflicht wäre, zu sprechen. Unsere erste Pflicht ist, zu schweigen. Wenn sie gewußt hätten, daß das Kind nicht Rita ist, daß es ein Säugling von drei Tagen ist, den eine uneheliche Mutter ausgesetzt hat, wären sie gar nicht gefahren. Es ist zum Kotzen …«
Dr. Werner wandte sich ab und kletterte die Uferböschung hinauf. Der Sanitätswagen rollte davon. Durch die Tür klang immer noch das schrille Lachen der wahnsinnigen Renate von Buckow.
»Ich werde auch das dem Kerl ankreiden«, sagte Dr. Werner verbittert. »Auch das ist sein Werk! Aus einer glücklichen Familie hat er in einer Stunde ein Chaos gemacht. Einen Toten, eine Wahnsinnige und ein sterbendes Kind. Wenn das nicht genügt, den Kerl zu enthaupten, zweifle ich an allen Gesetzen und allen Rechten von Menschlichkeit und Rettung der Humanität.«
Die Blätter der Abendzeitungen brachten als erste die Meldung von dem entsetzlichen Unglück an der Elbchaussee. Sie erwähnten auch, daß man Frau v. Buckow in eine Nervenheilanstalt eingeliefert habe und kaum die Hoffnung bestände, daß sie jemals wieder gesund würde. »So wurde durch die Tat eines Gangsters eine ganze Familie ausgelöscht«, schrieb die Zeitung. »Wir glauben, daß dieser Fall deutlich zeigt, wie sinnlos die Diskussionen über die Abschaffung der Todesstrafe sind.«
Frank Gerholdt las es, als er in Rahlstedt Windeln und zwei Strampelhöschen kaufte. Er saß auf einer Bank, das Paket neben sich, und konnte nicht glauben, was er las.
Verunglückt. Tot. In einer Irrenanstalt.
Er lehnte den Kopf nach hinten und blickte in den abendlichen Himmel. Das habe ich nicht gewollt, sagte er sich immer wieder vor. Das habe ich nicht gewollt. Nur hunderttausend Mark wollte ich haben, nur das Geld. O Gott, o mein Gott … Was soll nun werden …
Das Geld war verloren. Keiner würde es ihm zahlen. Nur jagen würde man ihn jetzt, wie einen tollwütigen Hund, so hatte Dr. Werner am Telefon gesagt. Er war zum Mörder geworden, zum indirekten Mörder an Werner und Renate v. Buckow. Und auch Rita würde sterben, wenn er das Mittel nicht bekam … Rita, die eine Vollwaise war, durch seine Schuld, durch seine abscheuliche Tat, für die es keine Rechtfertigung gab. Weder vor den Menschen, und schon gar nicht vor Gott.
Als er zurück zur Laube kam, war Rita wach und weinte. Sie drehte den Kopf zur Seite, als er an das Bett trat, ballte die Fäustchen und schrie.
»Ahnst du es?« fragte er leise und setzte sich auf die Bettkante. »Willst du jetzt nichts mehr von mir wissen?« Er streichelte über die blonden Locken und sah, daß die Haut fahler geworden war, durchsichtiger, so, als sei sie aus Milchglas. Ein heißer Schrecken durchjagte ihn! Das Blut! Es erneuert sich ja nicht! In zwei Tagen wird sie tot sein, wenn er den Namen des Mittels nicht wußte. Aber was nutzte ihm der Name? Kein Arzt würde es ihm verschreiben, ohne die Polizei anzurufen: Hier ist das Kind! Wir haben es ja im Rundfunk gehört und in der Zeitung gelesen.
Eine Art Panik bemächtigte sich Frank Gerholdts. Er saß am Bett Ritas, streichelte ihre blonden Locken und war dem Weinen nahe. »Jetzt muß ich für dich sorgen«, sagte er leise. »Jetzt hast du keinen mehr auf dieser Welt, der sich um dich kümmert. Jetzt bist du wirklich mein Kind … meine Rita.«
Er überwand seine innere Schwäche vor dem bedrohlichen Morgen und Übermorgen und kochte wieder den Brei, legte das Kind trocken, wickelte es in die frischen Windeln, gab ihm die Flasche und spielte mit den kleinen Fingern, die sich ihm entgegenstreckten. Als er es mit dem Sauger am Mund kitzelte, lachte es … es war ein helles, quiekendes Lachen, die Äuglein leuchteten auf. Das ganze Gesichtchen war ein heller Spaß, eine Freude, zu leben.
In Frank Gerholdts Hals würgte es. »Du wirst nicht sterben«, sagte er gepreßt. »Du bleibst bei mir. Du bist jetzt meine Rita. Keiner kann dich mir nehmen. Keiner! Ich will für dich sorgen, mein ganzes Leben lang will ich für dich da sein. Ich will schuften wie ein Pferd. Du sollst alles haben, was du brauchst, du sollst keine Not kennenlernen, du sollst ein schönes Leben haben. Und wenn ich mich krumm arbeite, wenn ich auf allen vieren kriechen muß … du sollst es gut haben bei mir …«
Es war wie ein Schwur, und Gerholdt nahm ernst, was er sagte. Er wartete die Nacht ab und fuhr mit dem Rad nach
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