Schicksal aus zweiter Hand
schleifte das Mädchen zurück zum Bett.
»Keinen Ton mehr!« sagte er hart. Er schlug noch einmal zu. Als er auf die Fensterbank kletterte und die Glasflügel zum Garten aufstieß, hörte er hinter sich einen Fall. Das Mädchen war ohnmächtig geworden. Sie lag neben dem Bett, die Fäuste geballt, als hätte sie sich auf ihn stürzen wollen.
Mit weiten Sprüngen hetzte Gerholdt über den Rasen zur Hecke.
Ich habe das Medikament! Das war das einzige, was er dachte und fühlte. Ich habe es! Ich habe es! Rita wird nicht sterben! Sie wird weiterleben! Bei mir weiterleben! Es ist jetzt mein Kind, meine Rita! Und ich werde keine Hemmungen kennen, keine Gesetze, keine Moral, um sie weiterleben zu lassen, um sie glücklich zu machen, später, wenn sie größer ist und zu mir Vater sagt. Vater! Vater zu einem Lumpen, zu einem Mörder …
Der Morgen graute, als er wieder in Rahlstedt ankam und in seine Laube schlich. Im ersten Strahl der Morgensonne las er den Namen des Mittels.
Hämoginen.
Ein Name, der das Leben bedeutete. Ein neues Schicksal. Einen neuen Beginn. Einen neuen Menschen.
Ein Name, der zum Tor in die Freiheit wurde. Nach einer Wanderung durch Blut und Schrecken.
Dreimal täglich fünfzehn Tropfen, stand auf dem Etikett der Flasche, von der Hand eines Apothekers geschrieben.
Als er Rita am Morgen zum erstenmal die Tropfen gab, weinte er dabei wie ein Kind …
Kriminalkommissar Dr. Werner sah nach dem letzten Überfall die Kompliziertheit dieses Falles sofort ein. In einer Besprechung mit dem Polizeipräsidenten von Hamburg äußerte er die Ansicht – und keiner widersprach ihm darin –, daß die Entführungsgeschichte in das Stadium der ›liegenden Fälle‹ getreten sei.
»Er hat jetzt das Mittel! Die Flasche hält etwa zwei Monate. Dann wird er sich irgendwie das Medikament selbst besorgen. Es bleibt uns gegen diese Möglichkeit nur übrig, alle Ärzte sofort aufzufordern, jeden unbekannten Patienten, der Hämoginen verlangt, der Polizei zu melden. Das gleiche gilt für alle Apotheken. Überprüfung aller Rezepte mit Hämoginen.«
»Wie stellen Sie sich das praktisch vor, Dr. Werner?« Der Polizeipräsident schüttelte den Kopf. »Wie wollen Sie alle Ärzte und Apotheken erfassen?«
»Durch Presse, Rundfunk und Rundschreiben der einzelnen Berufsverbände.«
»Bis die Aktion anläuft und bis sie durchgeführt ist, vergeht mindestens eine Woche!«
»Solange hält die Flasche ja auch noch! Zwei Monate! Er wird sich das Mittel besorgen, wenn er sieht, daß es zur Neige geht!«
»Hoffen wir es, Dr. Werner.« Der Präsident wiegte zweifelnd den Kopf. »Wir haben es mit einem Unbekannten zu tun, der so etwas zum erstenmal macht und sich dabei wirklich sehr intelligent benimmt. Er hinterläßt Spuren, wo er auch war … er hat nicht einmal die Absicht, sein Gesicht zu verbergen. Zweimal hat er sich dem Kindermädchen gezeigt. Er fühlt sich ungeheuer sicher, weil ihn niemand kennt.«
Dr. Werner legte die Hände aneinander. »Man sollte eine verrückte Sache machen, Herr Präsident«, sagte er sinnend. Über sein dickes Gesicht zog plötzlich der Schimmer einer inneren Freude. »Vergegenwärtigen wir uns die Situation: Ein Mann entführt nach amerikanischem Muster ein Kind. Warum: Er will Geld. Er braucht Geld! Er gehört also zu den Leuten, die auf der Straße liegen. Zu den Arbeitslosen.« Dr. Werners Stimme hob sich. »Auf jedem Arbeitsamt liegen aber bei den Karteien auch die Bilder der erfaßten Arbeitslosen, zwecks Arbeitsvermittlung, wie man so schön sagt. Man sollte diese Bilder durchgehen … Bild für Bild … und sie dem Kindermädchen zeigen. Vielleicht haben wir Glück.«
»Es werden schätzungsweise hundertzwanzigtausend Bilder sein!« Der Polizeipräsident lächelte mokant. »Bringen Sie das Kindermädchen nicht auch noch in die Irrenanstalt.«
»Es ist der einzige Weg, den Namen des Burschen festzustellen! Er muß gemeldet sein! In Deutschland gibt es keinen Deutschen, der nicht irgendwie erfaßt ist und über den nicht irgendwo eine Akte existiert. Jedem Deutschen wandert ein Aktendeckel nach … das ist preußische Gründlichkeit! Wenn wir systematisch suchen – und wenn es Monate dauert – müssen wir den Kerl, wenigstens dem Namen nach, finden. Und haben wir den Namen und das Bild – was ist dann einfacher, als ihn selbst zu bekommen? Wir müssen es versuchen!«
Diese Besprechung fand am Nachmittag statt … in der Nacht wurde in der Zentralapotheke von Wandsbek
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