Schicksal aus zweiter Hand
eingebrochen. Die Kasse blieb unberührt, die wertvollen Medikamente waren aus den Schränken gezerrt, alle Schubkästen waren offen, der Giftschrank war unberührt. Es fehlte nichts, so schien es auf den ersten Blick. Als die Polizei eintraf, waren die Apotheker dabei, die wichtigsten Arzneien wieder in die Regale zu stellen.
»Ein Rätsel«, sagte der Besitzer der Apotheke. »Wer in Apotheken einbricht, sucht entweder Gift oder Rauschgift-Präparate. Oder natürlich Geld! Von allen diesen Dingen ist alles unberührt. Nur der ganze Vorrat an Hämoginen fehlt! Dreiundzwanzig Flaschen zu je zwanzig Kubikzentimeter. Es muß ein Verrückter gewesen sein. Jeder Arzt kann Hämoginen verschreiben.«
Er schüttelte wieder den Kopf und verglich mit den Listen, was die Provisoren ansagten. Es stimmte alles … nichts fehlte, nur das Hämoginen …
Dr. Werner stand dem Polizeipräsidenten wieder gegenüber. Sein Gesicht war zerknittert. »Er hat auch die zweite Runde gewonnen«, sagte er matt. »Er hat Medizin für drei Jahre! Es bleibt uns wirklich nur noch die Kartei der Arbeitsämter. Ist auch das ein Fehlschlag –« Er sprach nicht weiter, sondern sah den Präsidenten wie ein geprügelter Hund an.
»Der Vater ist tot, die Mutter ist in der Nervenheilanstalt und wird sie nie wieder verlassen … warum bringt er das Kind nicht wieder zurück?« Der Polizeipräsident ging in seinem großen Dienstzimmer hin und her. »Ich habe gestern nacht darüber nachgedacht, Dr. Werner. Er stiehlt ein Kind, um Geld zu bekommen! Dieses Geld erhält er nicht durch die sich überstürzenden Ereignisse. Der Raub ist also gegenstandslos geworden. Er war umsonst, ganz und gar nutzlos. Das Kind muß ihm jetzt also eine Belastung sein … ein fünf Monate altes Kind für einen Kerl, der selbst nichts zu beißen hat! Was liegt näher, als daß er das Kind herausgibt, es irgendwo hinlegt, wo man es sofort findet? Was will er mit dem Kind ohne das Geld? Es ist ja – wie man respektlos sagt – wertlos geworden! Aber nein! Er gibt das Kind nicht her … er überwältigt das Mädchen und holt sich die erste Flasche Hämoginen, obgleich er da schon wußte, daß er das Geld nicht mehr bekommen konnte und die Familie ausgelöscht war. Und er stiehlt alle verfügbaren Flaschen Hämoginen in Wandsbek. Warum?! Will er das Kind behalten … auch jetzt noch, wo er keinen Pfennig dafür bekommt? Was hat er vor? Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, Dr. Werner? Wenn er die Medikamente stiehlt, hat er die Absicht, das Kind für immer bei sich zu behalten. Ich habe in der Nacht darüber nachgedacht und dieses psychologische Problem untersucht. Es ist nämlich ein psychologisches Problem geworden! Ein Gangster mit Herz! Ein Kidnapper mit moralischen Verpflichtungen. Können Sie sich so etwas denken?«
»Ehrlich gesagt – nein.« Dr. Werner strich sich über seine spärlichen, braunen Haare. »Vor allem, da die Gefahr der Entdeckung ungeheuer groß ist. Ein Mann mit einem kleinen Kind … das fällt doch auf! Wenn nicht sofort, so doch mit der Zeit!«
»Unser Gangster muß also so etwas wie Gefühl und Seele besitzen.«
»Eine herrliche Mischung!«
»Wer kennt sich in der Seele eines Menschen aus? Können Sie sich denken, daß ihn plötzlich – bei Erkennen der geschaffenen Lage – ein Schuldgefühl ergriff? Hier das Kind, von ihm geraubt. Dort die Eltern, die durch seine Tat in wenigen Stunden Leben und Gesundheit verlieren, etwas, was er bestimmt nicht gewollt und eingeplant hat. In dieser Situation erfaßt ihn ein moralischer Schock! Er fühlt sich schuldig. Und er behält das Kind, um es als sein eigenes von jetzt ab großzuziehen.«
»Mir kommen gleich die Tränen, Herr Präsident.« Dr. Werner sah seinen Vorgesetzten sarkastisch an. »Der edle Gangster. Der Gentlemankiller! Der Räuber mit Herz. Fra Diabolo der Zweite. Da sitzt der gute Kidnapper am Bett des Kindes und weint bittere Tränen der Reue. Hollywood würde Ihnen dieses Drehbuch aus der Hand reißen.«
»Sie halten eine solche Reaktion eines Verbrechers für unmöglich?«
»Sie paßt einfach nicht zu der Brutalität der Überfälle. Es ist gegen jegliche Erfahrung!«
»Und der Einbruch in die Apotheke? Das Hämoginen für drei Jahre?«
Dr. Werner schwieg. Er wußte darauf keine Antwort.
»Suchen wir die Karteien durch«, sagte er ablenkend. »Wenn wir wissen, wer es ist, haben wir vielleicht die Lösung dieses Rätsels in der Hand …«
Während Dr. Werner noch mit dem
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