Schicksal aus zweiter Hand
Kindermädchen in den Arbeitsämtern die Karteien durchging – es vollzog sich alles schneller, als er geglaubt hatte, denn das Mädchen hatte einen festen Begriff von dem Aussehen des Räubers –, räumte Frank Gerholdt die Laube in Rahlstedt und verließ Hamburg.
Vorher hatte er wahr gemacht, was er Rita geschworen hatte: Er hatte im Hafen jede Arbeit angenommen. Stundenweise nur, denn nach vier Stunden raste er mit der Bahn (einmal sogar mit einem teuren Taxi, weil er die Zeit überschritten hatte) zurück zur Kolonie ›Gute Hoffnung‹, um Rita das Essen zu machen, sie trockenzulegen, ihr ein gekauftes Spielzeug zu geben und sich mit ihr zu beschäftigen. Am ruhigsten konnte er nachts arbeiten … dann schlief Rita fest, und er hatte keine Angst, daß sie aufwachte und schrie. So war er Nacht für Nacht im Hafen und löschte Eilgüter, schleppte Kisten und Ballen, Säcke und Kartons, bis er am Morgen wie zerschlagen in die Laube wankte und ein oder zwei Stunden schlief. Dann erwachte Rita, er kochte den Brei, er rieb ihr einen Apfel und gab ihr eine zerdrückte Banane mit Zucker, wie er es in einem kleinen Handbuch über Säuglingspflege las, das er in Hamburg in einer Buchhandlung kaufte.
So ging es fünf Tage lang. Am sechsten Tag zog er aus … er hatte neunzig Mark verdient, sauer erschuftetes Geld, nach dem die Knochen schmerzten, als seien sie entzündet. Er kaufte für Rita eine Tragetasche, deckte sie gut zu und fuhr mit der Vorortbahn bis Volksdorf, von dort mit einem Eilzug nach Bremen, wo er umstieg in den D-Zug nach Münster – Köln - Aachen.
In Köln verließ er den Zug und stand in der riesigen Bahnhofshalle, verloren, ohne Ziel, ohne Heimat, ohne ein Dach über dem Kopf. Die Flucht aus Hamburg war geglückt.
Nun stand er in Köln. In einer anderen feindlichen Großstadt, in der die Tausende von Arbeitslosen auf den Bänken des Grüngürtels saßen und Skat spielten oder als Verkäufer billigster Margarine von Haus zu Haus zogen und um die Abnahme eines halben Pfundes bettelten. »Nur ein halbes Pfund, schöne Frau. Ich habe drei Kinder zu Hause.« Aber es kamen zu viele an die Türen … mit Margarine, mit Zeitungen, mit Waschmitteln, mit Schuhcreme, mit Zahnpasta, mit Rasierklingen, mit Wollsocken und Trockentüchern. Ein Heer von Not und Jagd nach ein paar Groschen.
Da stand er nun mit seinem Kind, inmitten des Menschentrubels, und wußte nicht wohin. Rita, in ihrer Tragetasche, quäkte. Eine Frau kam vorbei und blickte hinein. »Ein süßes Kind«, sagte sie bezaubert. »Suchen Sie Ihre Frau?«
»Ich bin Witwer!« Frank Gerholdt wandte sich ab und ging. Dummes Gewäsch, dachte er. Wo soll ich heute schlafen?
Er setzte sich zunächst in den Wartesaal Zweiter Klasse. Das bin ich Rita schuldig, dachte er. In der Dritten Klasse sind viele Pennbrüder, die rauchen einen schrecklichen Knaster. Rita würde husten von dem Qualm.
Er dachte überhaupt nur an Rita, sein ganzes Denken kreiste nur um sie. Er kaufte sich den Kölner Stadtanzeiger und las die Annoncen durch. Keine Arbeitsangebote, die waren sowieso so selten, sondern die Rubrik ›Möblierte Zimmer‹. Sie war lang, denn jeder vermietete heute einen Raum, den er abgeben konnte. Vermieten brachte Geld, und Geld war ein Ding mit Seltenheitswert.
Zimmer in Braunsfeld. Vierzig Mark. – Wohnschlafzimmer in Niehl – fünfunddreißig Mark. Elegantes Zimmer in Klettenberg – sechzig Mark. Preise, Preise … Er las weiter, mit dem Finger die Rubriken abgehend. Zimmer in Kalk – vierzig Mark. Zimmer in Riehl – fünfundzwanzig Mark. Teilmöbliert.
Fünfundzwanzig Mark! Wenn er zwei Monate im voraus bezahlte, blieben ihm noch fünfzehn Mark! Aber Rita hatte zwei Monate ein Dach über sich, sie lag zwei Monate im Warmen. Zwei ganze, lange Monate, in denen er suchen würde wie Diamantensucher: Arbeit, Geld, Essen für Rita … und wenn es die dreckigste und niedrigste Arbeit war.
Er fuhr mit der Straßenbahn hinaus nach Riehl. Das Zimmer lag unter dem Dach eines mehrstöckigen Hauses, in dem – er zählte die Klingelschilder – sechzehn Familien wohnten. Vom Fenster des kleinen Zimmers, in dem – man nannte das teilmöbliert – nur ein Bett, ein Stuhl und ein wackliger Tisch standen – hatte man einen freien Blick über die anderen Dächer und auf den großen Komplex des Amtsgerichts am Reichensperger-Platz.
»Mein Mann war Justizbeamter«, sagte die etwas schwammige Wohnungsinhaberin. »Ludwig hieß er. Justizwachtmeister. Er
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