Schicksalsmord (German Edition)
Rücksichtnahme. Die beiden würden so gut zueinander passen, es wäre jetzt sehr kleinlich von mir, ihnen das nicht zu gönnen. Den Tanzstundenball würde Thomas jedoch auf jeden Fall mit mir besuchen.
Ich glaubte mich in einen Fiebertraum zurückversetzt, diesmal aber in einen sehr hässlichen. Kaum zwei Menschen konnten verschiedener sein als Thomas und Lydia, wie kam Mutter darauf, sie könnten zueinander passen? Später wurde mir klar, dass sich diese Überlegung ganz pragmatisch auf das Alter der Beiden bezog. Thomas, der wegen eines Rückenleidens vom Wehrdienst befreit war, würde bereits im kommenden Jahr zum Studium gehen. Von mir wäre er dann für drei Jahre räumlich getrennt gewesen, Lydia dagegen konnte ihn sofort begleiten. Ich lehnte es jedenfalls ab, mit ihm zum Tanzstundenball zu gehen, und zog mir für meine Sturheit den Zorn der ganzen Familie zu.
In den folgenden Wochen und Monaten waren Thomas und Lydia ständig zusammen, und ich ging ihnen weitgehend aus dem Wege. Niemand kümmerte sich um mich, meine Abwesenheit schien allen vielmehr entgegenzukommen. Bald nahm ich eine merkliche Anspannung und erregte Diskussionen zwischen meinen Eltern, Thomas und Lydia wahr, die sich in der überraschenden Mitteilung auflösten, die Beiden würden gleich im Sommer nach dem Abitur heiraten. Lange war ich deshalb der Überzeugung, Lydia sei schwanger, doch war das offensichtlich nicht der Fall. Es gab eine große Hochzeit, Lydia war gekleidet wie ein Filmstar und bewegte sich in ihrem cremefarbenen Spitzenkleid mit Schleppe auch so. Meine Eltern strahlten vor Stolz, Dr. Gondschar und seine Frau wirkten unterkühlt und Thomas sah auch nicht richtig glücklich aus. Letzteres jedoch nur, weil er so ungern im Mittelpunkt stand. Lydia bedeutete ihm wirklich viel.
Im September gingen die Beiden zum Studium nach Gießen. Dadurch, dass Thomas nunmehr mein Schwager war, intensivierten sich unsere Beziehungen zwangsläufig wieder. Er und Lydia kamen vierzehntägig übers Wochenende nach Bödersbach und teilten die Zeit zwischen unseren und Thomas' Eltern auf, bei denen sie dann auch wohnten. In den Ferien fuhr ich regelmäßig für ein paar Tage zu ihnen nach Gießen, wo sie eine wunderschöne kleine Dachwohnung mit schrägen Wänden bewohnten. Thomas zeigte sich mir gegenüber immer sehr liebenswürdig und aufmerksam. Unter der Wärme seiner gleichbleibenden Freundlichkeit taute nicht nur ich allmählich auf, sondern leider auch meine durch seinen Verrat schockgefrorenen Gefühle für ihn. Bald war er wieder Gegenstand meiner Träume, und ich empfand es zunächst als beschämend und schockierend, in den Mann meiner Schwester verliebt zu sein. Da sich die Liebe jedoch nicht einfach vertreiben ließ, fand ich bald Rationalisierungen dafür. „Und lieb ich ihn, was geht's ihn an“, sagte ich mir. Er musste es schließlich nicht erfahren. Und auch seine Unerreichbarkeit war kein Mangel. Wie viele Mädchen meines Alters schwärmten für irgendwelche Schauspieler oder Sänger, die noch unerreichbarer waren. Ich konnte Thomas wenigstens regelmäßig sehen und sprechen, und ich genoss das zunehmend.
Als Thomas schwer erkrankte, hatte ich nach erfolgreichem Abitur gerade meine Ausbildung zur Krankenschwester begonnen. Er war übrigens der Einzige gewesen, der meinen Wunsch, Medizin zu studieren, unterstützt hatte, und auch meine Eltern in dieser Richtung zu beeinflussen versuchte. Deshalb stritt er sich sogar mit Lydia, die die Position meiner Eltern vertrat, ich solle erstmal einen Beruf erlernen. Allerdings waren meine Eltern zu dem Zeitpunkt in einer sehr schwierigen Situation. Meine Mutter war seit ihrem Sturz vor zwei Jahren nicht mehr voll belastbar, und nun wurde auch noch mein Vater invalidisiert. Das Geld in der Familie war dadurch noch knapper geworden, und ich hatte selbst den Wunsch nach baldiger wirtschaftlicher Selbständigkeit.
Während der Zeit seiner langsamen Genesung, die sich über ein Jahr hinzog, war Thomas oft in Bödersbach und ich besuchte ihn dann täglich. Wir kamen uns dabei so nahe wie noch nie. Diesmal ging es in unseren Gesprächen nicht nur um Kunst, Literatur und Natur, wir sprachen über den Tod, dem Thomas nur knapp entgangen war, über den Sinn des Lebens und unsere Wünsche und Ängste.
Nie hatten wir gesprächsweise unsere Jugendliebe und ihr jähes Ende erwähnt, eines Tages aber fing Thomas plötzlich davon an und bat mich in aller Form um Verzeihung. Ich wollte lachend
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