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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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dieses Brüllen in allen Knochen. Leider sind Haie stocktaub, zumindest nach konventionellen Maßstäben. Während ich, der ich nie auf den Gedanken käme, einen Tiger in die Pranke zu zwicken, geschweige denn sie zu verschlucken, also mit voller Wucht von einem Brüllen wie aus einem Vulkan getroffen wurde, sodass ich zitternd und bebend und mit weichen Knien zu Boden sank, spürte der Hai nur ein dumpfes Vibrieren.
    Richard Parker vollführte eine Drehung und begann, den Kopf des Hais mit den Krallen seiner freien Vorderpranke zu bearbeiten und ihn zu beißen, während er mit den Hinterbeinen Bauch und Rücken seines Gegners traktierte. Der Hai ließ die Pranke nicht los - seine einzige Möglichkeit zu Verteidigung und Angriff - und peitschte mit dem Schwanz. Tiger und Hai schlugen um sich und wälzten sich am Boden. Nur mit Mühe bekam ich meinen Körper so weit in die Gewalt, dass ich auf das Floß fliehen und es losmachen konnte. Das Rettungsboot entfernte sich. Ich sah gelbe und blaue Blitze, hier ein Stück Fell, da ein Stück Haut, und das Rettungsboot schwankte und schaukelte. Richard Parkers Fauchen war Furcht einflößend.
    Schließlich hörte das Schwanken auf. Nach mehreren Minuten setzte sich Richard Parker auf und leckte sich die linke Pranke.
    An den folgenden Tagen verbrachte er viel Zeit mit der Pflege aller vier Pranken. Die Haut eines Hais ist besetzt mit winzig kleinen Hautzähnchen und ist folglich so rau wie Schmirgelpapier. Richard Parker hatte sich zweifellos wehgetan, als er so vehement auf den Hai einhieb. Die linke Vorderpranke war verletzt, aber er hatte offenbar keinen bleibenden Schaden davongetragen; alle Zehen und Krallen waren noch da. Was den Mako angeht, so war außer der seltsam unversehrten Schwanzflosse und dem Maul nur ein halb aufgefressener, zerfleischter Kadaver übrig geblieben. Rötlich-graue Fleischbrocken und Fetzen von inneren Organen lagen überall verstreut.
    Es gelang mir, ein paar von den Überresten des Hais mit dem Haken zu angeln, doch zu meiner Enttäuschung enthalten die Wirbel von Haien keine Flüssigkeit. Immerhin war das Fleisch schmackhaft und gar nicht fischig, und die Knorpel hatten guten Biss, eine willkommene Abwechslung nach so viel weicher Nahrung.
    In der Folgezeit beschränkte ich mich auf kleinere Haie, Haikinder im Grunde, und erlegte sie selbst. Wie ich feststellte, war es schneller und weniger anstrengend, wenn ich sie mit einem Messerstich ins Auge tötete, statt ihnen mit dem Beil den Schädel einzuschlagen.

Kapitel 80
    Unter all den Doraden, die ich fing, ist mir eine ganz besonders im Gedächtnis geblieben. Es war frühmorgens an einem bewölkten Tag, und wieder einmal suchte uns ein Schwarm Fliegender Fische heim. Richard Parker schlug danach wie ein Boxer. Ich hatte mich hinter einem Schildkrötenpanzer verschanzt und hielt einen Fischhaken mit einem Stück Netz in die Höhe, in der Hoffnung, dass Fliegende Fische sich darin verfingen. Aber der Erfolg war mä-ßig. Ein Fliegender Fisch zischte vorbei. Die Dorade, die ihn verfolgte, sprang aus dem Wasser. Aber sie hatte sich verschätzt. Der Fisch segelte vorüber, knapp über mein Netz hinweg, und die Dorade schlug gegen die Bootswand wie eine Kanonenkugel. Das ganze Boot bebte von dem Aufprall. Blut spritzte auf die Plane. Ich reagierte sofort. Ich tauchte unter dem Hagel Fliegender Fische hindurch und packte die Dorade, als schon ein Hai von unten heraufkam. Ich zog sie an Bord. Sie war tot, oder doch so gut wie, und durchlief eben alle Farben des Regenbogens. Was für ein Fang! Was für ein Fang!, jubilierte es in meinem Kopf. Dank sei dir, Jesus-Matsya. Es war ein Prachtexemplar, fett und fleischig. Sie wog gut und gern ihre vierzig Pfund. Davon konnte eine ganze Horde satt werden. Augen und Rückgrat brächten eine Wüste zum Blühen.
    Doch leider hatte Richard Parkers mächtiges Haupt sich mir zugewandt. Ich sah es aus den Augenwinkeln. Die Fliegenden Fische hagelten nach wie vor herunter, aber die interessierten ihn jetzt nicht mehr; der Fisch in meinen Händen hielt seine ganze Aufmerksamkeit gebannt. Der Abstand zwischen uns war zweieinhalb Meter. Das Maul hatte er halb geöffnet, aus dem Mundwinkel hing noch eine Schwanzflosse. Sein Rücken rundete sich. Seine Hinterhand tänzelte. Sein Schwanz zuckte. Die Haltung war eindeutig : er kauerte sich zum Sprung. Zur Flucht war es zu spät, selbst an meine Trillerpfeife kam ich jetzt nicht mehr heran. Mein Stündlein hatte

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