Schiffbruch Mit Tiger
so wenig wie möglich, damit sie nicht vor der Zeit zerschlissen. Aber ich sorgte mich um die Hälse. Würde denn nicht gerade das Seil sie durchscheuern? Wenn das Oberende einen Riss bekam, wie sollte ich dann die Säcke verschließen?
Wenn die Wasserversorgung gut war, wenn der Regen kein Ende nahm, wenn ich die Säcke so weit gefüllt hatte, wie ich mich traute, füllte ich das Schöpfgefäß, die beiden Plastikeimer, die zwei Mehrzweckbehälter, die drei Trinkbecher und die leeren Wasserdosen (die ich längst nicht mehr fortwarf). Dann füllte ich eine nach der anderen die Spucktüten, drehte das obere Ende zu und verschloss sie mit einem Knoten. Fiel dann immer noch weiteres Wasser vom Himmel, nahm ich mich selbst als Gefäß. Ich spannte den Regensammler auf, steckte das Ende des Gummischlauchs in den Mund und trank und trank und trank.
Richard Parkers Trinkwasser mischte ich immer ein wenig Meerwasser bei, größere Mengen in den Tagen nach einem Regenguss, weniger in Trockenzeiten. Zu Anfang unserer Reise lehnte er sich noch manchmal über Bord, schnüffelte am Meerwasser und nahm ein paar Schluck, aber das ließ er bald sein.
Trotz allem kamen wir nur mit Müh und Not aus. Auf der ganzen Fahrt war keine andere Sorge so groß und so allgegenwärtig wie die Sorge um Wasser.
Von allem, was ich an Essbarem fing, bekam Richard Parker, wenn ich so sagen darf, den Löwenanteil. Es blieb mir nichts anderes übrig. Er bemerkte es sofort, wenn ich eine Schildkröte oder eine Dorade oder einen Hai ergatterte, und ich musste sie rasch und großzügig mit ihm teilen. Ich glaube, im Aufsägen von Schildkröten habe ich einen Weltrekord aufgestellt. Fische wurden schon zerteilt, wenn sie noch zuckten. Dass ich alles in mich hineinstopfte, was auch nur halbwegs essbar war, lag nicht nur an meinem entsetzlichen Hunger; es lag auch an dem Tempo, das gefordert war. Manchmal konnte ich gar nicht überlegen, was ich da vor mir hatte: entweder ich steckte es in den Mund, oder ich hatte es an Richard Parker verloren, der ungeduldig am Rande seines Reviers stand, mit den Krallen angelte, scharrte und schnaufte. Irgendwann - und besser hätte mir nicht zu Bewusstsein kommen können, wie tief ich gesunken war - merkte ich zu meinem Entsetzen, dass ich fraß wie ein Tier, dass ich meine Beute genauso gierig, geräuschvoll, in großen Brocken herunterschlang wie Richard Parker.
Kapitel 83
Ganz allmählich zog eines Nachmittags der Sturm auf. Die Wolken sahen aus, als stolperten sie ängstlich vor dem Wind her. Das Meer verstand den Wink und wusste, was es zu tun hatte. Ein Auf und Ab begann, das mir Angst und Bange machte. Ich holte die Destillieranlagen und das Netz an Bord. Was für eine Landschaft dort draußen! Was ich bis dahin gekannt hatte, waren allenfalls Hügel aus Wasser gewesen. Jetzt türmten sich ganze Gebirge aus Wellen, mit Tälern dazwischen, finster und tief. Die Abhänge waren so steil, dass das Rettungsboot ins Rutschen geriet, fast wie ein Surfbrett. Das Floß hatte besonders schwer zu kämpfen; es wurde aus dem Wasser gerissen und wild hin- und hergeschleudert. Ich warf beide Treibanker aus, unterschiedlich weit, damit sie sich nicht in die Quere gerieten.
Wenn das Boot einen riesigen Wellenberg erklomm, hing es an den Treibankern wie ein Bergsteiger an seinem Seil. Wir schossen aufwärts, bis wir mitten in einer Explosion von Licht und Schaum den schneeweißen Gipfel erreichten und das Boot nach vorn kippte. In solchen Augenblicken konnte man meilenweit sehen. Doch der Berg war in Bewegung, und der Boden unter unseren Füßen sauste so schnell in die Tiefe, dass unsere Mägen rebellierten. Ehe wir uns versahen, waren wir wieder am Grund eines finsteren Tals, anders als das vorherige und dennoch gleich. Über uns türmten sich gewaltige Wassermassen, und nur die Tatsache, dass wir so leicht waren, konnte uns retten. Dann geriet das Land erneut in Bewegung, die Ankertaue waren zum Zerreißen gespannt, und es begann eine neue Achterbahnfahrt.
Die Treibanker taten ihre Arbeit sehr gut - fast zu gut, könnte man sagen. Jeder Wellenkamm wollte uns mit auf die Reise nehmen, doch die Anker hielten uns zurück - mit dem Erfolg, dass das Boot vorn heruntergezogen wurde und der Bug durch eine Wolke von Schaum und Gischt tauchte. Ich war jedes Mal völlig durchnässt.
Schließlich kam eine Welle, die uns noch stürmischer als die anderen davontragen wollte. Diesmal tauchte der Bug unter die Wasseroberfläche. Ich
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