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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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ich denn mit Zigarettenfiltern ohne Tabak? Wie kann man Zigaretten
essen?«
    »Was hätte ich sonst damit tun sollen? Ich rauche nicht.«
    »Du hättest sie aufheben sollen, zum Tauschen.«
    »Tauschen? Mit wem?«
    »Mit mir!«
    »Aber Bruder, als ich sie aß, war ich allein in einem Boot mitten auf dem Pazifik.«
    »Und?«
    »Da habe ich mir keine großen Chancen ausgerechnet, dass ich jemanden treffe, der etwas gegen meine Zigaretten tauschen will.«
    »Du musst doch auch an die Zukunft denken, Dummkopf! Jetzt hast du nichts, womit du handeln kannst.«
    »Aber selbst wenn ich etwas zum Tauschen hätte, was würde ich denn bekommen? Was hast du, was ich brauchen könnte?«
    »Ich habe einen Stiefel«, antwortete er.
    »Einen Stiefel?«
    »Ja, einen schönen Lederstiefel.«
    »Was soll ich denn mit einem Lederstiefel in einem Rettungsboot mitten auf dem Pazifik? Meinst du, ich gehe nach Feierabend wandern?«
    »Du könntest ihn essen!«
    »Einen Stiefel essen? Was für eine Idee.«
    »Du isst Zigaretten - warum da nicht auch Stiefel?«
    »Das ist ja ekelhaft. Wem gehört er überhaupt?«
    »Woher soll ich das wissen?«
    »Du erwartest von mir, dass ich den Stiefel eines Wildfremden esse?«
    »Wo ist denn da der Unterschied?«
    »Ich kann es nicht fassen. Ein Stiefel. Ganz abgesehen davon, dass ich Hindu bin und uns Hindus die Kühe heilig sind, würde ich doch, wenn ich einen Stiefel äße, all den Schmutz essen, den der Fuß abgesondert hat, und dazu all den Schmutz, in den er getreten ist.«
    »Also kein Stiefel.«
    »Lass ihn mal ansehen.«
    »Nein.«
    »Was? Soll ich ihn etwa blind kaufen?«
    »Wir sind beide blind, vergiss das nicht.«
    »Dann beschreib mir den Stiefel. Was bist du denn für ein Kaufmann? Kein Wunder, dass du nach Kundschaft hungerst.«
    »Genau das. Genau das.«
    »Also, wie sieht er aus?«
    »Es ist ein Lederstiefel.«
    »Was für ein Lederstiefel?«
    »Ein ganz normaler.«
    »Und das heißt?«
    »Mit Schnürsenkel und Ösen und Lasche. Innensohle. Ein ganz normaler Stiefel eben.«
    »Welche Farbe?«
    »Schwarz.«
    »Zustand?«
    »Getragen. Das Leder weich und biegsam, schmiegt sich in die Hand.«
    »Und wie riecht er?«
    »Er duftet warm nach Leder.«
    »Ich muss sagen - ich muss sagen - es hört sich verlockend an.«
    »Dann schlag ihn dir aus dem Kopf.«
    »Wieso?«
    Schweigen.
    »Willst du nicht antworten, Bruder?«
    »Es ist kein Stiefel mehr da.«
    »Kein Stiefel?«
    »Nein.«
    »Das macht mich traurig.«
    »Ich habe ihn gegessen.«
    »Du hast den Stiefel gegessen?«
    »Ja.«
    »Hat er geschmeckt?«
    »Nein. Haben die Zigaretten geschmeckt?«
    »Nein. Mir ist schlecht davon geworden.«
    »Mir von dem Stiefel auch.«
    »Es war einmal eine Banane, die hing an einem Baum. Sie wuchs und reifte, bis sie groß, fest, gelb und duftend war. Dann fiel sie zu Boden, jemand fand sie und aß sie, und danach ging es ihm besser.«
    »Verzeih mir. Ich möchte um Verzeihung bitten für alles, was ich gesagt und getan habe. Ich bin ein schlechter Mensch«, schluchzte er.
    »Aber nein. Du bist der wertvollste, wunderbarste Mensch auf Erden. Komm, Bruder, lass uns zusammen sein. Lass uns einander ein Festmahl sein.«
    »O ja!«
    Der Pazifik ist nicht der rechte Ort für Ruderer, schon gar nicht, wenn sie blind und schwach sind, wenn sie in großen, störrischen Rettungsbooten sitzen und wenn der Wind nicht seinen Teil tut. Er war ganz nahe, dann war er wieder weit fort. Er war links von mir, dann wieder rechts. Er war vor mir, dann hinter mir. Aber schließlich kamen wir doch noch zusammen. Der Schlag, mit dem die Bootsrümpfe sich trafen, war Musik in meinen Ohren, mehr noch als das Platschen einer Schildkröte. Er warf mir ein Seil zu, und ich band sein Boot an meinem fest. Ich breitete die Arme, damit wir uns umarmen konnten. Tränen standen mir in den Augen, und ich lächelte ihn an. Er war direkt vor mir; ich spürte ihn, auch wenn ich ihn nicht sehen konnte.
    »Mein lieber Bruder«, flüsterte ich.
    »Ich bin hier«, antwortete er.
    Ich hörte ein leises Knurren.
    »Bruder, eins habe ich vergessen.«
    Er landete mit solcher Wucht auf mir, dass wir halb auf die Plane, halb auf die Mittelbank fielen. Er umfasste mit beiden Händen meinen Hals.
    »Bruder«, keuchte ich und wand mich in seiner allzu heftigen Umarmung, »mein Herz ist dein, aber ich rate dringend, dass wir in einen anderen Teil meiner bescheidenen Behausung ziehen.«
    »Und ob dein Herz mein ist!«, antwortete er. »Und deine Leber und

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