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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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niemand?«
    »Pssst ... ich träume von Erdbeeren.«
    »Erdbeeren! Hast du etwa welche? Bitte, kann ich eine haben? Ich flehe dich an. Oder ein Stückchen. Ich bin fast verhungert.«
    »Und ob ich welche habe. Es könnte ein Erdbeben geben von so viel Erdbeeren.«
    »Ein Erdbeben von Erdbeeren! Bitte, kann ich welche haben? Mein Entbehren ...«
    Die Stimme, oder was es sonst als Täuschung von Wind und Wellen sein mochte, verklang.
    »Dicke, runde, saftige, duftende Erdbeeren«, fuhr ich fort. »Ich habe sie direkt hier vor meinem Mund, so schwer hängen sie an ihren Stängeln. Die ganze Pflanze liegt am Boden, so schwer lasten sie auf ihr. Da sind bestimmt dreihundert Erdbeeren in meinem Beet.«
    Schweigen.
    Die Stimme kehrte zurück. »Lass uns über Essen reden ...«
    »Das ist eine gute Idee.«
    »Was würdest du gern essen, wenn du haben könntest, was du willst?«
    »Ausgezeichnete Frage. Ich würde mir ein riesiges Büfett aufbauen. Anfangen würde ich mit Reis und Sambar. Es gäbe Reis mit Kichererbsen und Pulau-Reis und -«
    »Ich hätte gern -«
    »Ich bin noch nicht fertig. Zu meinem Reis gäbe es einen würzigen Tamarindensambar und einen Frühlingszwiebelsambar und -«
    »Noch mehr?«
    »Wart's nur ab. Ich würde noch Sagu mit gemischten Gemüsen nehmen und Gemüsekorma und Kartoffelmasala und Weißkohlvadai und Masala Dosai und scharfen Linsenrasam und -«
    »Ah ja.«
    »Warte. Und Porial mit gefüllten Auberginen und Kokosnuss-Jamswurzel-Kootu und Idlireis und Dani Vadai und Gemüsebhaji und -«
    »Das hört sich —«
    »Und Chutneys, habe ich das schon gesagt? Kokosnusschutney und Minzchutney und eingelegte Paprika und eingelegte Stachelbeeren, alles natürlich mit Nans, Papadams, Parathas und Puris serviert, wie es sich gehört.«
    »Hört sich —«
    »Die Salate! Mango- und Okrasalat und frischer Gurkensalat. Und als Nachtisch Mandelhalva und Bananenhalva und gezuckerte Pfannkuchen. Und Erdnusstoffee und Kokosnussburfi und Vanilleeis mit dicker, heißer Schokoladensoße.«
    »Sonst noch etwas?«
    »Abschließen würde ich den Imbiss mit einem Zehnliterglas frischen, sauberen, kühlen Wassers mit Eisstückchen drin und einer Tasse Kaffee.«
    »Hört sich wunderbar an.«
    »Allerdings.«
    »Was ist ein Kokosnuss-Jamswurzel-Kootu?«
    »Das ist das Paradies auf Erden. Man braucht Jamswurzeln dazu, Kokosraspeln, grüne Bananen, Chilipulver, zerstoßenen schwarzen Pfeffer, Kurkuma, Kreuzkümmel, Senfkörner und ein wenig Kokosnussöl. Man röstet die Kokosraspeln, bis sie goldbraun sind —«
    »Darf ich etwas vorschlagen?«
    »Was?«
    »Wie wäre es statt Kokosnuss-Jamswurzel-Kootu mit gekochter Ochsenzunge in Senfsoße?«
    »Hört sich nicht vegetarisch an.«
    »Alles andere als das. Als zweiten Gang Kutteln.«
    »Kutteln? Zuerst isst du die Zunge des armen Tiers und dann auch noch seine
Innereien?«
    »Und ob! Ich träume von
tripes ä la mode de Caen -
warm - mit Kalbsmilch.«
    »Kalbsmilch? Schon besser. Was ist Kalbsmilch?«
    »Kalbsmilch wird aus der Bauchspeicheldrüse des Kalbs gemacht.«
    »Der Bauchspeicheldrüse!«
    »Geschmort mit Champignonsoße - eine Delikatesse.«
    Woher kamen diese ekelerregenden, gotteslästerlichen Vorschläge? War ich wirklich mittlerweile so verroht, dass ich davon träumte, mich an einer
Kuh und ihrem Kalb
zu vergreifen? Was waren das für entsetzliche Abwege, auf die ich da geraten war? War das Rettungsboot zurück in den Müllhaufen gedriftet?
    »Und die nächste Beleidigung?«
    »Kalbshirn mit brauner Butter.«
    »Aha, noch mehr vom Kopf?«
    »Hirnsoufflé!«
    »Mir wird schlecht. Gibt es überhaupt etwas, was du
nicht
essen würdest?
    »Ach, was gäbe ich für Ochsenschwanzsuppe. Für Spanferkel, gefüllt mit Reis, Würsten, Aprikosen und Rosinen. Für Kalbsnierchen in einer Soße aus Butter, Senf und Salbei. Für mariniertes Kaninchen, in Rotwein gedünstet. Für gebratene Hühnerleber. Für Leberpastete mit Kalbfleisch. Für Froschschenkel. Gebt mir Froschschenkel, gebt mir Froschschenkel!«
    »Jetzt aber genug!«
    Die Stimme schwand. Ich bebte am ganzen Leib vor Ekel. Ein irrsinniger Verstand, das mochte angehen, aber es war wirklich nicht fair, dass er einem auch noch auf den Magen schlug.
    Mit einem Mal begriff ich, was vorging.
    »Würdest du dein Rindfleisch auch roh essen?«, fragte ich.
    »Aber natürlich! Ein blutiges Steak, was gibt es Besseres?«
    »Würdest du das geronnene Blut eines toten Schweins essen?«
    »Jederzeit, mit

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