Schiffbruch Mit Tiger
Land ohne Erdboden gehört? Wo Bäume auf anderen Pflanzen wuchsen? Ich war erleichtert, denn das bestätigte meine Überzeugung, dass diese Insel nur eine Chimäre sein konnte, ein reines Hirngespinst. Zugleich aber war ich enttäuscht, denn eine Insel, jede noch so merkwürdige Insel, wäre mir hochwillkommen gewesen.
Da die Bäume blieben, blieb auch mein Blick. Nach so viel Blau war der Anblick von etwas Grünem wie Musik für meine Augen. Grün ist eine wunderbare Farbe. Die Farbe des Islam. Meine Lieblingsfarbe.
Eine sanfte Strömung trug das Rettungsboot näher an die Illusion heran. Von einem Strand konnte nicht die Rede sein, denn es gab weder Sand noch Kiesel und auch keine Brandung, weil die Wellen, sobald sie auf die Insel trafen, einfach in der porösen Oberfläche versickerten. Von einer rund dreihundert Meter landeinwärts gelegenen Anhöhe fiel das Land zum Meer hin und bis etwa vierzig Meter über den Uferstreifen hinaus sanft ab, danach ging es steil hinab in die Tiefen des Pazifiks; es musste der kleinste Kontinentalsockel der Welt sein.
Allmählich gewöhnte ich mich an die Sinnestäuschung. Ich stellte sie nicht auf die Probe, denn ich wollte sie nicht vertreiben, und als das Rettungsboot sanft an die Insel stieß, regte ich mich nicht und träumte einfach weiter. Das Material, aus dem die Insel bestand, war offenbar ein dichtes Knäuel aus röhrenförmigem Seetang, im Durchmesser gut zwei Finger dick. Was für eine verrückte Insel, dachte ich.
Nach einigen Minuten kroch ich auf die Seite des Bootes. »Halten Sie Ausschau nach allem, was grün ist«, riet das Überlebenshandbuch. Nun, grün war diese Insel allerdings. Ein wahres Chlorophyllparadies. Ein Grün, das intensiver leuchtete als Lebensmittelfarben und Leuchtreklamen. Ein Grün, das trunken machte. »Letztlich kann nur der Fuß beurteilen, ob Sie auf festem Boden stehen«, fuhr das Handbuch fort. Wenn ich den Fuß ausstreckte, konnte ich die Insel berühren. Probieren - und enttäuscht werden - oder nicht probieren, das war die Frage.
Ich entschied mich für das Probieren. Ich vergewisserte mich, dass keine Haie in der Nähe waren. Ich drehte mich auf den Bauch, hielt mich an der Plane fest und streckte langsam ein Bein nach unten. Mein Fuß tauchte ins Wasser. Es war angenehm kühl. Die Insel lag nur ein klein wenig tiefer und schimmerte im Wasser. Ich streckte mich. Ich rechnete damit, dass die Illusion jeden Augenblick zerplatzen würde wie eine Seifenblase.
Aber das tat sie nicht. Mein Fuß tauchte ins klare Wasser und traf auf federnden, doch festen Grund. Ich verlagerte mehr Gewicht auf den Fuß. Die Illusion verschwand noch immer nicht. Jetzt stellte ich mich ganz darauf. Und sank nach wie vor nicht ein. Ich konnte es nicht glauben.
Am Ende war es doch nicht der Fuß, sondern die Nase, die entschied, dass ich Land gefunden hatte. Üppig und frisch und überwältigend eroberte er meine Geruchsnerven: der Duft der Vegetation. Ich sog ihn tief ein. Nach Monaten, in denen alles, was meine Nase zu riechen bekam, nach Salzwasser gerochen hatte, war der organische Geruch von grünen Pflanzen geradezu betörend. Nun war ich überzeugt, und das Einzige, was ins Schwimmen geriet, war mein Verstand; meine Gedanken wurden immer wirrer. Das Bein zitterte.
»Mein Gott! Mein Gott!«, stöhnte ich.
Ich fiel über Bord.
Der doppelte Schock von festem Untergrund und kühlem Wasser brachte mich genügend zur Besinnung, dass ich mich auf die Insel schleppen konnte. Ich stammelte noch ein paar unzusammenhängende Worte als Dank an Gott, dann sank ich zusammen.
Aber ich konnte nicht ruhig liegen bleiben. Dazu war ich zu aufgeregt. Ich mühte mich, wieder auf die Beine zu kommen. Alles Blut strömte aus meinem Kopf. Der Boden unter mir schwankte heftig. Die Welt verschwamm mir vor den Augen. Ich dachte, ich würde ohnmächtig. Ich atmete tief durch. Zu mehr als Keuchen schien ich nicht fähig. Immerhin konnte ich mich wieder aufsetzen.
»Land, Richard Parker!«, rief ich. »Land! Wir sind gerettet!«
Der Pflanzengeruch war außerordentlich stark. Und das Grün hatte etwas so Frisches, Beruhigendes, dass es war, als strömten Trost und Stärke im wahrsten Sinne des Wortes durch meine Augen in mich ein.
Was war dieses merkwürdige Röhren-Seegras mit seinen endlosen Windungen? Konnte man es essen? Es schien eher eine Art Alge, aber weitaus kräftiger als die Algen, die man sonst im Meer findet. Wenn man es anfasste, fühlte es sich feucht
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